Rattle-Abschieds-Countdown ❺④③②①: Hans Abrahamsen und Bruckners vervollständigte Neunte

Simon Rattle, ehemaliger Chefdirigent in spe der Berliner Philharmoniker, dreht heftig am Abschiedstournee-Rad. Drei Programme gibts noch im Juni (inklusive Waldbühne), davor an diesem heißen Wochenende Kernrepertoire en excess: heute Bru, morgen Bra. Vielleicht auch eine letzte Irreminiszenz an den zu Recht vergessenen Sturm im Wasserglas vor einem Achtel Jahrhundert, als es Wirbel um Rattles angebliche Vernachlässigung des Hohen Deutschromantischen Dingsbumses gab. Und selbstverständlich hört man ganz genau zu am Samstag bei Anton Bruckners 9. Sinfonie d-Moll in Chefdirigent Rattles fünftletztem Programm: gespannt wie ein Flitzebogen, schon weils da ein Finale gibt, das es gar nicht gibt.

Denn nach dem Adagio erklingt keine Abschieds-Stille, wie normalerweise, sondern die nach Bruckners nachgelassenen Skizzen vervollständigte Aufführungsfassung des Finales, an der die vier Musikwissenschaftler Nicola Samale, John Phillips, Giuseppe Mazzuca und Benjamin-Gunnar Cohrs sage und schreibe 28 Jahre lang gearbeitet haben.  Ein Sakrileg? Erhebliche Teile des Finales liegen in Partiturbögen oder Entwürfen vor, wie die vier Autoren im Editionsbericht darlegen. Großteils zwar nicht zu Ende instrumentiert; aber nur die letzten 4 von etwa 22 Minuten wurden ohne jede direkte Vorlage synthetisiert.

Gewiss ist das also „originaler“ als die noch immer verbreitete Süßmayr-Fertigstellung von Mozarts Requiem. Aber der Begriff „original“ bringt einen ja auch ohne Komparativ bei Bruckner in Beelzebubs Wohnküche. An der Qualität der Fertigstellung kann bei einer derart langwierigen, hochkompetenten Arbeit (die Simon Rattle mit Inbrunst lobpreist) kaum ein Zweifel bestehen. Aber wichtiger scheint doch etwas anderes: Wäre nicht sogar eine inkompetente Fertigstellung Bruckner gegenüber pietätvoller als das Weglassen eines Finales? Denn das Fehlen eines Finales muss für den Erzformzausel Bruckner (der noch auf dem Totenbett vorschlug, das Te Deum als Finale zu spielen) doch eine postmortale Wunde sondergleichen sein. Sensible Ohren meinen nach jeder Aufführung der Neunten, die mit dem Adagio endet, etwas knirschen zu hören, und das kann nur der Meister sein, der sich im Grabe umdreht.

Schlimmer aber (und das ist wohl das wichtigste Argument), wenn man am offenen Ende des Adagios nichts mehr knirschen hört. Rattle hat wohl Recht, dass wir uns viel zu sehr daran gewöhnt haben, Bruckners Neunte als dreisätziges, in sich geschlossenes, perfektes Werk zu betrachten. Das geht einem bestürzend auf, wenn man, wie es dem Konzertgänger passiert, zum ersten Mal einen vierten, finalen Satz hört: Es fühlt sich verdammt richtig an. Nicht nur, weil wir vom Adagio-E-Dur in d/D-Regionen zurückkehren. Sondern weil man ahnt, dass man es sich als Hörer bei den ergreifendsten Aufführungen der unvollendeten Neunten in gewisser Weise bequem gemacht hat im Welt-Abschied. Jetzt sitzt man noch mit brennendem Sitzfleisch im Gigantofinale, wo man sonst schon tiefgerührt-relaxt am Nachkonzertwein nippte.

Vorher Skepsis, am Ende sehr überzeugt – unabhängig von kompositorischen Details.

Wie man das Finale nun en detail findet, ist auch eine Hörtemperamentsfrage. Sicher wird man Unbefriedigendes ausmachen können, nichts Unbrucknerisches, aber Unterbrucknerisches. Wie auch nicht. Gibt es nicht mehr Leerlauf als sonst? Andererseits, ist das nicht auch schön, meint man nicht deutlicher als sonst zu hören, dass diese Brucknerpatterns gelegentlich ein Vorläufer des Minimalismus sind?  Gegen Ende meint man in der Streichermotorik gar das Flugzeug des jungen John Adams landen zu hören. Davor aber hat es auch solche swingenden Passagen gegeben, die, mit Verlaub, fast zu unplump für Bruckner klingen.

Simon Rattle hat diese Version bereits 2012 mit den Berliner Philharmonikern aufgeführt und auch auf CD eingespielt; auch im Internet bekommt man einen Höreindruck. Rattles tiefe Vertrautheit mit dieser Arbeit, die er offenbar über viele Jahre begleitet hat, ist schon daran zu erkennen, dass er auch das fertiggestellte Finale auswendig dirigiert. An dieser Verinnerlichung meint man auch die Gefahr zu erkennen: nämlich zu vergessen, dass es sich trotz aller Plausibilität um ein Provisorium handelt, eine Spekulation. (Die mittlerweile häufig gespielte Cooke-Version von „Mahlers Zehnter“ scheint in dieses bedenkliche Stadium eingetreten zu sein.) Sollte das Motto also lauten: Schreibt ein, zwei, viele Finalsätze! -?

Die Sätze 1 bis 3 wurden zuvor von den Berliner Philharmonikern gespannt wie die Flitzebögen musiziert. Die Durchstrukturierung des ersten Satzes ist imposant. Die geradezu gewalttätigen Facetten scheinen stärker hervorzutreten als die tänzerischen, das Konstruierte mehr als das Fließende. Das geht nicht ohne eine gewisse Härte des Klangbilds ab, und mancher mag mehr menschliche Wärme vermissen. Aber es tönt dennoch nie forciert, sondern allzeit gelenkig. Das ist doch eine kunstvolle Quadratur des Kreises.

Die avantgardistische Industriebrutalität des folgenden Scherzos ist natürlich Rattles Domäne. Und doch ist das Maschinenballett, in dem die Bögen der Streicher wie stampfende Kolben wirken, von erstaunlicher Eleganz. In Kombination mit dem Luftgeisterdrive des Trios gelingt die Kreisform der Quadratur. Das Adagio schließlich steht rezeptionsseitig ganz im Bann der Erwartung, dass da heute noch was nachkommen wird. Liegts daran, dass es distanzierter wirkt als man es kennt und liebt? Das klang doch sonst gefühlvoller?

Und dennoch ahnt man im Verlauf des Adagios, dass sich ein scheinbares Paradoxon ereignen könnte: dass das Adagio erst durch das Folgen eines Finales wirklich zum Herzstück wird.

Ein Vorspiel gabs auch noch, aus der Tapas-Reihe, die auch so eine Hinterlassenschaft sind. Mit Simon Rattles Vorliebe für kulinarische Metaphorik wird der Konzertgänger keinen Frieden mehr schließen. Diese lästige Vorstellung, Beethoven hätte eine Egmont-Tapa geschrieben! Kernölrepertoire!

Die nach eigenen Klavierstudien entstandenen Three Pieces for Orchestra des skrupulösen dänischen Komponisten Hans Abrahamsen aber sind sieben Minuten herrliche, wirklich herrliche Musik. With a restless and painful expression klingt mit seiner scharfen, vertrackten Rhythmik eher nach starkem Espresso als nach Tapa. Calmly moving bringt zwei Violinen, Piccoloflöten, Klavier, Celesta und Glockenspiel an den oberen Diskantrand, dorthin, wo der Klang gleich hinüberkippt nach (N)Irgendwo, während Heavy aus unruhiger Bassregion kommt. Ein äußerst reizvolles, ausdrucksstarkes Werk.

Am Ende des Konzerts trägt Simon Rattle seinen Blumenstrauß tief in die zweiten Geigen, schönes Statement. Schließlich das Umdrehen des ganzen Orchesters zum rückwärtigen Publikum. Wann wird endlich mal ein Orchester auf den Trichter kommen, sich zu verabreden, dass man sich einfach mit dem hinten sitzenden, nun aber vorne stehenden Pauker verbeugt? So aber verbeugt sich wieder mal nur der Dirigent, hinter den Rücken seines Orchesters. Aber hat ja auch was, diese Exklusivverbeugung, so als Teil des Rattle-Abschiedsprogramms.

Das am Sonntag schon weitergeht. Mit Bra. Und davor Widmann und, aber sowas von Untapa, Lutosławskis Dritter. Wir werden zuhören und konzertberichterstatten, bleiben Sie dran, schkrollen Sie am besten gleich noch ein Stück weiter runter und abonnieren dieses Blog.

Weitere Kritiken: Schlatz, Goebel (Kulturradio), Amling (Tagesspiegel), Uehling (Berliner Zeitung)

Zum Konzert  /  Mehr über den Autor  /  Zum Anfang des Blogs

3 Gedanken zu „Rattle-Abschieds-Countdown ❺④③②①: Hans Abrahamsen und Bruckners vervollständigte Neunte

Schreibe einen Kommentar