Virtuoskindlich: Kopatchinskaja und Leschenko im Boulezsaal

Ein Kessel Buntes, aber nicht Wahlloses im Pierre-Boulez-Saal: explosiv vom knarzenden Knarren im Salonmatsch bis zum schmalzigen Schalk, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Weil das enfant terrible Patricia Kopatchinskaja mittlerweile eine prosperierende Fanschar hat (einerseits erfreulich, andererseits bedenklich wegen der lärmigen Begleiterscheinungen wie Johlen und Füßetrappeln nach jedem Stück), hier erstmal ein paar Worte zu ihrer gleichrangigen Partnerin, der wunderbaren Pianistin Polina Leschenko.

Die wirkt nur auf den ersten Blick wie das bon enfant im ungleichen Schwesternpaar: von hoher Seriosität und leichter Akademizität mit schwarzem Jackett, breitem Schal (den sie nach der Pause weglässt) und Notenbuch, auf dem exempla steht.

Aber am Klavier ist sie auch eher Wildsau als Hausschwein, um diese fürchterliche Zuschreibung zu perpetuieren, die an Kopatchinskaja klebt wie die Schlammkruste am Dickhäuter. Den ganz verschiedenartigen, aber allzeit wilden Musikantitäten des Abends lässt auch Leschenko freien Lauf: in Alfred Schnittkes Klassizismus-Kryptojazz-Sowjetbarock-Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier, in der die Zwölfophonie in Terzen gut versteckt ist wie bei Alban Berg. In Francis Poulencs schlicht und einfach misslungener (so Poulencs Behauptung) Sonate für Violine und Klavier. Oder in den hinreißenden Impressions d’enfance von George Enescu von 1940. Aber freier Lauf heißt ja nicht Kontrollverlust! Leschenkos variabler Anschlag ist von einer bemerkenswerten Klarheit, das ist unglaublich präzise und unaufgeregt spektakulär. Oder spektakulär unaufgeregt. Je nun.

Schön, wie bei Schnittke der Umblattler zum Saitenzuhalter umfunktioniert wird, der die Noten in den Steinwaykorpus legt. Und prima, dass nach dem Konzert der erste Blumenstrauß aus dem Publikum an Polina Leschenko geht.

Denn natürlich ist der Boulezsaal wegen Patricia Kopatchinskaja so voll. Alle Stücke tragen im Titel den Zusatz für Violine und Klavier, in dieser Reihenfolge. Aber die schönsten Momente sind doch die, in denen Strich und Schlag sich innig berühren bis zur Verschmelzung. Etwa wenn im Largo von Schnittkes Sonate (1963) machtvolle Durakkorde des Klaviers einen verschwindend leisen Liegeton der Geige zunächst kaum bemerken lassen: bald begegnen sich dann Akkord und Ton in der Gegend zwischen Kraft und Stille, aber nicht in der Mitte, sondern tief im Zartland. Berückender Zusammenklang. Einmal fällt ein einziger hoher Eiston im Klavier herab. Nach einem gemeinsamen Anschwellen steigt der Ton der Violine hoch hinauf und löst sich in so ein transparentes Pfeifen auf, das schließlich die Ultraschallmauer durchstößt.

Anderes eindrucksvolles Entweichen der Musik: der abrupte Schluss von Poulencs im Zweiten Weltkrieg entstandener, zuvor verstörend wohltönender Sonate. Dass Kopatchinskaja auch den sogenannten schönen, ja schmalzigen Ton kann (den sie bei Mozart und Sibelius gern verweigert), beweist sie nicht nur im Mittelsatz so nebenher. Aber sie schafft es, hinter jedem schönen Ton ein blasses Fragezeichen aufscheinen zu lassen. Und die zerbrechlichen Doppel-, Dreifach- und Sonstfachgriffe haben was von Brüderchen und Schwesterchen und noch irgendeinem Kindchen, die sich so verängstigt wie tapfer an den Händen halten. Dieser Schluss aber: Halb Seil, halb Beil hört das auf, jedenfalls zittern machend, ein schrecklicher Witz. Dass Poulenc das Stück dem ermordeten Federico Garcia Lorca widmete, muss man gar nicht wissen, um zusammenzuzucken. Und dass er es für die große Ginette Neveu schrieb, die ein paar Jahre später bei einem Flugzeugabsturz ihr Leben verlor, macht das alles noch witziger und schrecklicher.

Eine große Entdeckung für den Konzertgänger Enescus Impressions d’enfance. Weniger Kinderszenen sind das als Sichverlieren in den Bildern früher Erinnerungen – eingeleitet von einem einsamen Musikanten:

Dass Kopatchinskaja zwischen den Bildern die Titel ansagt, hilft der Fantasie auf die Sprünge. Es stört aber doch den klingenden Bewusstseinsfluss: etwa wenn sich die Statik des Alten Bettlers ins Plätschern des Bächleins am Ende des Gartens auflöst. Wie zauberhaft diese Übergänge funktionieren, hört man an der unkommentierten Verwandlung vom Wind im Kamin in den Sturm draußen, in der Nacht.

Die Rundsaalkrux des Boulezsaals, in der die Musiker sich nach der Pause um 180 Grad zu drehen haben, hat was vom Peter-Evangelium: Wer von hinten hört, wird von vorne hören, und wer von vorne hört, wird von hinten hören. Darum klingt für den in den Rücken der Geigerin geratenen Hörer Enescus coucou au mur mehr nach dem Kuckuck hinter der Wand. Die Musik wird dann gelegentlich zum Klavierabend mit etwas Geige dabei. Streicht die Geige gar in György Kurtágs Drei Stücken für Violine und Klavier (1979) an der Hörbarkeitsgrenze herum, ist alles aus, sobald weitere Mitspieler ins akustische Oval treten, ein schmierig intonierendes Lederschuhscharren zur Linken etwa oder das Flachsfaserglissando einander überschlagender Hosenbeine zur Rechten.

Volle Präsenz aber wieder in der violinistischen Glanz-, Gloria- und Gaukler-Nummer des Abends, Maurice Ravels Tzigane (1924). Kopatchinskaja, traumwandlerisch und draufgängerisch und technisch ohnehin sensationell, betont das Clowneske der Virtuosität und führt so Clownerie und Virtuosität zu sich selbst. Dabei verbindet sie Ravels hyperkünstlichen Urbanfolklorizismus mit matschiger Provinzatmosphäre, einschließlich quietschendem Eselskarren: ein Salonstück auf dem Dorfplatz ausgesetzt, um nicht zu sagen ein Hochzuchtschwein in der Wild(sau)nis. Da ist das Johlen und Füßetrappeln sehr berechtigt.

Hier noch eine Version der Tzigane mit dem von Ravel ursprünglich vorgesehenen, an ein Cimbalom erinnernden Luthéal-Aufsatz fürs Klavier (ab 4:17):

Feine Zugaben: ein Satz Mozart und ein Nocturne von John Cage.

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3 Gedanken zu „Virtuoskindlich: Kopatchinskaja und Leschenko im Boulezsaal

  1. Um hier noch mal mit einem gänzlich anderen Thema hineinzutrampeln.
    Idagio (interessiert mich einfach): Wie hören Sie die Lossless-Dateien denn? Doch auf dem Smartphone? Oder transferieren Sie auf einen Player? Aber ist das iPhone ein so guter Musikspieler, dass der Unterschied zwischen verlustfreier bzw. unkomprimierter Audiodatei und gutem MP3 so groß ist?

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