Hördenkend: Die „Duineser Elegien“ mit Franziska Walser und Edgar Selge im Pierre Boulez Saal

Das hat noch gefehlt, da wird der Pierre Boulez Saal zum Rainer Maria Rilke-Saal: zweimal die Duineser Elegien, am vergangenen Sonntag und nochmal am kommenden Freitag, gesprochen von Franziska Walser und Edgar Selge. Purer Text, ohne Lichtschnickschnack und dergleichen, womit sich Rilke leichter bekömmlich machen ließe.

O reine Übersteigung, wie Rilkianer statt Ach du grüne Neune gern sagen. Aber die ist ja aus den Sonetten an Orpheus (die Übersteigung, nicht die grüne Neun). Deren erstaunlich weniger überstiegenes Gegenstück, die gar nicht so elegischen Elegien im Konzertsaal zu rezitieren, das ist ein interessantes Experiment. Statt Musik für das denkende Ohr mal Worte für das hörende Denken.

Welches dennoch nix begreift. Dabei hatte es doch auf eine günstige Gelegenheit gehofft, so als Denken eines studierten, magistrierten, enervierten Germanisticus, der damals an der Uni die Duineser Elegien schnöde geschwänzt und sich derart vielleicht um prägende Erfahrungen gebracht hat.

Aber es stimmt gar nicht, manches begreift es ja doch. Edgar Selge betont in einem kurzen Vorwort, dass diese Verse sich Rilke zufolge nur im Vortrag und in der Gemeinschaft wenn nicht verstehen, so doch erfahren lassen.

In so einer Art von verbalhaptischem Begreifen also. Schon Killys Literaturlexikon schreibt ja in philologischer Akademiehumoristik vom Hinweis auf eine starke Dominanz des Ästhetischen bei Unverbindlichkeit der Inhalte. Trotzdem ist die Rezitation ein ständiger, immer neu ansetzender, nie abschließender Versuch, Inhalte zu binden und zu verbinden. Unüberstiegen deshalb, weil die Sprecher die Erfahrung des Erhabenen nicht durch weihevollen Ton zu befördern suchen, sondern wie auf der Suche und im Tasten nach Worten. Als entstünde noch die verstiegenste Formulierung in eben jenem Augenblick. Oder Ohrenblick. In jenem Sprechmoment. Und plötzlich bricht doch das auf unreligiöse Weise Erhabene herein, oder es berührt einen flüchtig, oder es berührt einen gar nicht, aber man spürt es doch vorbeigehen, wie diese mysteriösen, schönen und schrecklichen Engel, die immer wieder auftauchen und vorübergehen. (Eher islamische als christliche Engel übrigens, wie Rilke in einem Brief vom 13.11.1925 schreibt. Rilke gehört also unseren Deutschlandrettern zufolge auch nicht zu Deutschland.)

Da der Konzertgänger mit den Vortragenden sowohl verwandt als auch verschwägert ist, hat er sich befangen zu erklären und nimmt Abstand von jeder kritischen Bewertung der Rezitation, im Lobenden wie im Mäkelnden.

Nur noch ein paar Worte zur starken Dominanz des Räumlichen auf der Suche nach Verbindlichkeit von Inhalt: Während bei musikalischen Darbietungen (etwa Liederabenden) die extrem klare, manchmal übersortierte Akustik des Boulezsaals ernüchternd wirken kann, entsteht hier durch den für eine Sprechveranstaltung wiederum übermäßigen Nachhall genau das Gegenteil: die im Sprechduktus gar nicht angelegte Weihe fast wie in einem Kirchenschiff. Was ein kurioser Kontrast ist zur Plenarsaal-Atmosphäre des Saals (die sich noch dadurch verstärkt, dass neben dem Konzertgänger ein Mann in roter Hose sitzt, der einmal Kanzler der Bundesrepublik Deutschland hätte werden können, nun aber seiner Begleiterin die Wonnen des Abschiedgenommenhabens von der Politik preist).

Das alles führt zu einer Art höherer Fremdelei, die man kurz und knackig: spannend nennen könnte. Dass wiederum das Publikum versucht, die Pausen zwischen den Elegien statt zur Reflexion zur finalen Rilkezerhustung zu nutzen, ist die ewige Kehrseite aller hörenden Gemeinschaftserfahrung, sei sie lyrisch oder musikalisch: eine apokalyptische Form von Nachhall.

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