Beyond: Ambroise Thomas‘ HAMLET an der Deutschen Oper

Bedauerlich, dass das Saxophon seit seiner Patentierung anno 1846 nie so richtig heimisch wurde in den Sinfonie- und Opernorchestern des 19. Jahrhunderts. Es ist doch eine klangfarbliche Erweiterung und schafft Atmosphäre für die besonderen Momente. Nicht zuletzt sein subtil eiernder Ton macht den zweiten Akt der Oper HAMLET eindrucksvoll, wo der Titelheld das den Königsmörder entlarvende Schauspiel fingiert. Die Oper ist von 1868, ihr Komponist Ambroise Thomas also einer der ersten Nicht-Sax-Ignoranten. Einer von ziemlich vielen eindrucksvollen Momenten in dieser konzertanten Hamlet-Aufführung an der Deutschen Oper Berlin, die mehr ist als bloß ein véhicule d’étoile für Diana Damrau als Ophelia: ein wahres Sängerfest nämlich, und je länger je mehr auch ein Orchesterfest.

Wem die Faust-Chosen von Berlioz und Gounod immer noch zu philologisch-akribisch sind, der ist bei Thomas‘ Hamlet gerade richtig! Für das englische Publikum schuf Ambroise Thomas eine zweite Fassung seiner Oper, in der Hamlet immerhin am Ende nicht triumphal gekrönt wird, sondern anständig zu Tode kommt – diese Fassung wird hier gespielt. Bei den Engländern nützte das dem Werk aber nichts: Niemand außer einem Barbaren oder Franzosen hätte es gewagt, aus einem so tragischen Gegenstand wie HAMLET eine derart erbärmliche Burleske zu machen, schrieb die Pall Mall Gazette. Und Verdi verurteilte das Werk bereits, bevor er die Musik kannte, allein nach Lesen des Librettos. (Informativer Einführungstext von Anselm Gerhard im knappen DO-Programmheft!)

Diese ganzen Skeptizisma vorweg, ist man très baff, welche Tiefe und welche Facetten Florian Sempey seinem Hamlet verleiht. Als Zweifelzausel tritt er auf, von sinnenden Celli begleitet. Und als bewährter Figaro hat Sempey nicht nur die Haare schön, sondern weiß auch wohldosierte Komik ins Ringen und Wringen und Singen seines Hamlet zu bringen. Phänomenaler Darsteller! Vor allem jedoch hat er auch die Stimme schön: ein warmer, empfindsamer Bariton, der aber ebenso passioniert attackieren kann.

Doch egal wie schön du Haare und Stimme hast, Diana Damrau hat schöner. Damrau ist bekanntlich die beste Sängerin der Welt, wie Konzertgängers Tochter aufgrund ihrer (nicht systematischen) Youtube-Recherchen gern verkündet. Damraus Ophelia nun ist nicht gerade femme fragile, und das Darstellerische kann man mal beiseite lassen; Damraus eingefrorenes Lächeln erinnert an Meryl Streep in dem Florence Foster Jenkins-Film. Stimmlich jedoch sind die Unterschiede zu Foster Jenkins beträchtlich! Mit Männerherzen und dem Notenständer kämpfend, singt diese leidgeprüfte Ophelia von Schwüren, die auf leichten Schwingen fliegen, und fliegt dabei auf leichten Schwingen in die Höhe. Ophelias großer Auftritt im vierten Akt dann, in der Tradition von Lucia di Lammermoors Wahnsinns-Szene, ist (auch wenn die Technik nicht mehr so unfehlbar sein mag wie früher) gigantisches Kokolaturkino oder wie das heißt – beyond words, Frau Damrau!

Und natürlich ist dieser Akt der Hauptgrund der ganzen, nicht niedrigpreisigen Veranstaltung an der Deutschen Oper. Aber das überaus Schöne ist eben, dass die Akte I bis III und V mehr als Beiwerk für den großen Auftritt sind, weit mehr.

Daran hat das Orchester der Deutschen Oper unter Yves Abel starken Anteil. Klar sichert es zunächst mal den Luftraum, damit die Stimmen mit leichten Schwingen fliegen können. Abel ist eher Praktiker als Magier und dient jederzeit dem Gesang. Aber dennoch gelingt ihm die Quadratur des Kreises, das bedeutungsvolle Eigenleben des Orchesters bei Ambroise Thomas zur Blüte zu bringen. Es gibt schon einige rumpsende und bumpsende Momente in der Partitur, gerade am Anfang, aber der erste bedenkliche Eindruck löst sich schnell und nachhaltig in orchestralem Lustgefallen auf. Über die Wirkmechanismen der immer wieder spürbaren harmonischen Raffinesse kann man bei Anselm Gerhard einiges nachlesen. Und verblüffend sind diese Farb- und Gefühlswerte im Orchestersatz, nicht nur des eingangs erwähnten Saxophons, sondern beispielsweise auch einer solistischen Posaune im ersten Akt. Und immer wieder den Horn-Soli.

Verblüffung sogar mal aus ganz unerwarteter Richtung: Durchaus auch ein humoristischer Höhepunkt wird erreicht, wenn Sempeys Hamlet in dieser Oper, die ansonsten den ganzen philosophischen Plunder über Bord wirft, immerhin singen darf être ou ne pas être – ô mystère! Im Mittelteil der Arie aber ist von ce pays inconnu die Sangesrede, d’où pas un voyageur n’est encor revenu, und wir hören ein Englischhorn, und einen Moment lang klingt das mehr nach Tristan als nach Shakespeare. Da ist man wirklich perplex, denn das Melos fließt bei Ambroise Thomas ja völlig unwagneresque.

Rundum beglückend wird die musikalische Gesamtsituation durch den weiteren Cast. In der Eröffnungsszene wirkt der von Jeremy Bines vorbereitete Chor noch etwas erratisch, aber der Eindruck katapultiert sich bald bald in höhere Freudenklassen, bis hin zum wirklich betörenden finalen Gesang an Ophelias Leichenzug. Die solistische Besetzung ist rundum überzeugend, etwa mit dem Bass Nicolas Testé (vulgo Herrn Damrau) als bösem Thron-Usurpator Claudius, einem fiesen Virilbolzen, und dem Tenor Philippe Talbot als Ophelias Bruder Laertes. Unter den kleinen Rollen fällt mal wieder der Tenor Andrew Dickinson (als Offizier Marcellus) positiv auf.

In jeder Hinsicht herausragend aber ist die bühnensprengende Gertrude der Mezzosopranistin Eve-Maud Hubeaux. Die Konfrontation der Hamletmutter mit dem Sohn im dritten Akt ist gewiss die dramatisch dichteste Szene der ganzen Oper. Aber Hubeaux gelingt es durchgehend, ihr imposantes Stimmvolumen völlig in den Dienst eines eindringlichen, ergreifenden Frauenporträts zu stellen, zwischen heftiger Verzweiflung und kämpferischer Mutterliebe. (In musikalischer Hinsicht ganz irrelevant ist es hingegen, wenn die Frau des Konzertgängers ihren Mann wiederholt auf Madame Hubeaux‘ umwerfendes enges Kleid und die in der Tat Atemnot bewirkende Rückenansicht hinweist.)

Ein packender Opernabend also von vorn bis hinten, auch ohne Szene. Dass die Sänger näher am Publikum sind und das Orchester nicht im Graben versenkt, ist ein greifbarer akustischer Vorteil so einer konzertanten Aufführung. Die eminente Bühnenwirksamkeit von Ambroise Thomas‘ teilt sich auch Stippvisiteuren des französischen Repertoires wie dem Konzertgänger mit, der den Hamlet zum ersten Mal hört.

Dennoch wäre es natürlich toll, diese Oper hier mal in Szene zu erleben: und zwar in selbige gesetzt von einem Regisseur, nicht von einem jener Zauberkünstler oder Norwegen-Antiwerber oder Leuchtmittelgroßhändler oder Gas-Wasser-Video-Installateure, die an Berliner Opernhäusern (nicht nur diesem hier) öfter mal unfachmännisch Regie probieren dürfen. Auch an der Deutschen Oper konnte man diese Saison ja durchaus erfreuliche Regie-Arbeiten erleben, ansprechend, ohne dumm zu sein: die Oceane etwa oder den Zwerg oder Les contes d’Hoffmann.

Na, alles andere wurscht erstmal an diesem gelungenen Abend. Konzertant ist beyond Regie. Dieser Hamlet ist ein Höhepunkt der Berliner Opernsaison. Noch zweimal, am 27. und 29. Juni.

Weitere Kritiken: Schlatz, Luehrs-Kaiser

Mehr über den Autor / Zum Anfang des Blogs

8 Gedanken zu „Beyond: Ambroise Thomas‘ HAMLET an der Deutschen Oper

  1. Der krönende Abschluss einer tollen Saison, es war überwältigend, bis auf die schauspielerischen Versuche, aber das wäre Beckmesserei.
    Sehr lange stehende Ovationen. Jeder hatte sie verdient, eventuelle Fehlerchen in der ersten Aufführung waren nicht mehr zu hören.
    Warum ich Ives Abel immer schätzte, habe ich gerade erst wieder erlebt

  2. Man man man, Albrecht, Sie sind ja ganz aus dem Häuschen :-))
    Ich gehe Samstag, freue mich aber nach langer Zeit endlich mal wieder Yves Abel zu hören, der leider lange nicht mehr zu erleben war. Habe ihn damals sehr sehr geschätzt

Schreibe einen Kommentar