Begegnend: Beethovens „Missa solemnis“ mit Rundfunkchor, KA Potsdam, Janowski

Unverhoffte Begegnungen

Unverhoffte Begegnungen beschert das Berliner Konzertleben: Jene Missa solemnis von Ludwig van Beethoven, die in ebendem Jahr 1824 in Petersburg und Wien erstmals aufgeführt wurde, in dem man in Leipzig einen gewissen Johann Christian Woyzeck aufs Schafott führte, kann man einen Tag nach der Deutsche-Oper-Premiere von Alban Bergs Wozzeck hören. Dabei gibts ein unverhofftes Wiederhören mit Marek Janowski: Der dirigiert im Konzerthaus am Gendarmenmarkt den Rundfunkchor Berlin und die Kammerakademie Potsdam, weil Chorchef Gijs Leenaars, der die Aufführung vorbereitet hatte, plötzlich krank wurde. Wenige Stunden vor Konzertbeginn erklärte Janowski sich zum Einspringen bereit. Was man halt so macht mit 79.

Beethoven trifft Woyzeck. Zeitgenössische Darstellung

Bewundernswert, wie Janowski sich in diesem Alter flott bücken und umblättern kann. Denn seine Partitur liegt auf halber Oberschenkelhöhe. Kennzeichnend für Janowski ist nicht Altersweitsicht im medizinischen Sinn, sondern umfassender Überblick aus der Höhe des Wissens und langjähriger Praxis. Aufgrund der Umstände konzentriert er sich darauf, den Messe-Laden zusammenzuhalten. Akkurat, aber jedem mystischen Schnickschnack abhold. Denn Mystik macht man nicht, Mystik geschieht. Mal legt Janowski die Hand auf die Lippen oder fingert in Richtung einer Orchestergruppe, man möge sofort leiser werden. Im Agnus Dei aber winkt er fast verärgert den ersten Streichern, lauter zu spielen.

Die Kammerakademie Potsdam, die neben ihren Konzerten im besuchenswerten Nikolaisaal regelmäßig in Berlin auftritt, ist allerdings vorzüglich. Man historisiert unaufdringlich, mit Naturtrompeten, Naturhörnern usw. Die Solisten gefallen durchweg: sei es die trillernde Flötistin, die im Credo den Heiligen Geist über dem Orchester schweben lässt, sei es vor dem Benedictus die erste Geigerin mit ihrem aus himmlischen Höhen herablangenden Solo, das anfangs an den Lohengrin-Beginn erinnert.

Chor trifft Orchester (Symbolbild)

Nachhaltiger Glaube an die Kadenz zeigt sich zu Beginn des Credo in der Trinität aus vierter, fünfter und erster Stufe. Hier klingt er mit dem historischen Blech harscher, spröder als gewohnt. Umso überwältigender entfaltet sich darüber die Klarheit und weiche Sinnlichkeit des Rundfunkchors. Seine Genauigkeit und Agilität ist immer bewunderungswürdig; beeindruckend, wie die Wogen im Gloria hin und her gehen, betörend vor allem aber die leisen Töne. Die Majestät des Innehaltens zu Beginn des Sanctus.

Die Begegnung des Rundfunkchors mit der Kammerakademie ist reizvoll. In Richtung des Chors fingert Janowski gar nicht, der ist auch so perfekt.

Die Aufführung macht klar, dass die Missa in erster Linie ein Chorstück ist. Aber das jederzeitige Umschlagen ins Persönliche und Individuelle ist essenziell, schon aus den eröffnenden Kyrie-Rufen treten die Stimmen einzelner hervor. Unter den vier ausgezeichneten Solisten klingt der Sopran von Iwona Sobotka am sinnlichsten und der Alt von Jennifer Johnston am andächtigsten, spirituellsten, David Butt Philips Tenor am durchschlagendsten, Franz-Josef Seligs Bass am tiefenentspanntesten, ja demütigsten. Man könnte dazu neigen, Selig wegen einer gewissen Zurückhaltung zu unterschätzen; zu Unrecht, wie man merkt, wenn er zu Beginn des Agnus Dei ergreifend ins Licht tritt.

Battaglia betritt Missa

Die Missa solemnis, diese Messe ohne alles Formelhafte, ist doch eine Wundertüte. Das zweite von Beethovens finalen Riesenwerken, aber im Gegensatz zur Neunten nicht zu Tode genudelt. In sie muss man nichts reinmontieren, nichts gegenstellen, nichts Poliertes aufreißen. Eine vorzügliche Aufführung reicht. Was einem in der alles begegnet: das atemverschlagende dorische Incarnatus, das nach der eröffnenden Kadenzigkeit des Credo aus einer anderen Klangwelt kommt. Oder der irre Einbruch der Kriegsmusik am Ende des Agnus Dei, wenige Minuten vor Schluss der ganzen Festmesse, eine durchrüttelnde Wendung. Panische Angst legt die Altistin Jennifer Johnston da in ihre Stimme.

Wenn der arme Johann Christian Woyzeck sowas hätte hören dürfen in seinem elenden Leben.

Janowski aber setzt im langen, erschütterten Schweigen nach dem geradezu abrupten Schluss der Missa solemnis seine Brille ab und verstaut sie in der Brusttasche des Fracks. Mystik begegnet, wenn Musiker vernünftig arbeiten.

Nochmal am Sonntagnachmittag im Potsdamer Nikolaisaal.

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