Binsenweisheit, dass jeder ein Stück anders hört. Aber manchmal, in besonderen Situationen, bringt ein Hörer ins Konzert etwas ganz Eigenes mit, was im Stück nicht angelegt ist, aber die Musik doch irgendwie hergeben muss. So geht es dem Konzertgänger im Kleinen Saal des Konzerthauses mit dem langsamen Schluss von Felix Mendelssohn Bartholdys Streichquartett a-Moll op. 13, wo er hörend die dritte Strophe eines kürzlich gehörten Kirchenliedes assoziiert: Dass unsre Sinnen wir noch brauchen können / und Händ und Füße, Zung und Lippen regen, / das haben wir zu danken seinem Segen.
Bei einem Werk des Komponisten der Reformationssymphonie sich an einen Text von Paul Gerhardt zu erinnern, kann nicht ganz falsch sein, auch wenn atmosphärisch kaum Gemeinsamkeiten bestehen (und erst recht nicht musikalisch zu Johann Crügers Vertonung). Das Werk des 18jährigen Mendelssohn, geschrieben 1827 kurz nach Beethovens Tod, ist kein kammermusikalisches Morgenlied, sondern ein stürmisch bewegtes Stück, das mit einer fast identischen Adagio-Passage beginnt und endet; dieser Rahmen ist es, der aus einem hochbegabten Frühwerk tiefberührende Musik macht. Wie exzellent gearbeitet die einzelnen Sätze sind, wird deutlich, als das Vogler Quartett am Schluss des Konzerts den rhythmisch prägnanten dritten Satz als Zugabe wiederholt. (Es sollten öfter Stücke in einem Konzert zweimal gespielt werden, es ist fast immer ein Gewinn für den Hörer.)
Eine Beethoven-Hommage ganz anderer Art ist das Streichquartett op. 70, das der 2012 verstorbene Grigori Frid 1977 im Gedenken an den 150. Todestag komponierte. In Deutschland ist Frid fast unbekannt, höchstens seine Kammeroper nach dem Tagebuch der Anne Frank bildet eine Ausnahme. In dem Streichquartett, das erst vor wenigen Wochen beim Hamburger Kammermusikfest seine deutsche Uraufführung erlebt hat, geht Frid von vier Beethoven-Motiven aus (aus zwei Rasumowsky-Quartetten sowie den späten Quartetten op. 131 und 132). Was man hört, hat aber nichts mit akademischer Erbsenkomponiererei zu tun, sondern ist eine erstaunlich einheitliche, ziemlich düstere Klangvision irgendwo zwischen spätem Schostakowitsch und junger Gubaidulina. Dass ein Streichquartett momentweise wie ein großes Orchester klingen kann, weiß der Kammermusikfreund natürlich. Bei Frid lernt er, dass es auch klingen kann wie ein großes Orchester, das Cluster spielt: erstaunlich, dass vier Streicher so viele Töne gleichzeitig hervorbringen können. Man bekommt Lust, mehr von Frid kennenzulernen; und fragt sich, wie viele große Unbekannte (man denke an Mieczysław Weinberg) die Wundertüte russisch-sowjetische Musik noch verbirgt.
Das seit 30 Jahren bestehende Vogler Quartett, für die Frau des Konzertgängers deutsch und protestantisch bis ins Mark, spielt Mendelssohn wie Frid auf seine spezifische Art, für die der Janowski-Slogan gelten könnte: Das Wesentliche ist die Musik. Ohne Effekthascherei, in vollkommenem Zusammenspiel, dem jener hochpolierte Glanz abgeht, der perfekt, aber leblos wirkt. Für die Wahrheit des Ausdrucks werden auch mal Unsauberkeiten in der Tongebung in Kauf genommen, was nichts mit Schlamperei zu tun hat; im Gegenteil, Hochglanz ist Schlamperei.
Zum Verzicht auf glattpoliertes Musizieren gehört auch der Verzicht auf die plakative Darstellung von Zerrissenheit, die beim späten Beethoven zur Pose geraten kann. Das Streichquartett Es-Dur op. 127 von Ludwig van Beethoven, auf den Mendelssohn wie Frid sich so grundverschieden wie gleichermaßen ehrfürchtig beziehen, stellt natürlich alles Vorhergehende in den Schatten. Es ist klassizistisch und avantgardistisch zugleich. Höhepunkt des Konzerts ist die atemberaubende Pause im zweiten Satz, nach der man wirklich jenseitige Musik zu hören glaubt (in die ein Grobian, der in keiner Weise zu spüren scheint, wo wir uns hier befinden, herzhaft hineinhustet).
Ein erfreulich gutbesuchtes, hochkonzentriertes Konzert, das der Hörer mit dem Bewusstsein verlässt, Wesentliches gehört zu haben.