25.3.2016 – Immer wieder freitags: Matthäuspassion mit Figuralchor und Berlin Baroque

Matthäuspassion oder Parsifal, lautet die klassische Frage für den musikliebenden Menschen am Karfreitag. Der Konzertgänger gehört zu denen, die letzteres obszön finden und als Alternative höchstens die Johannespassion oder andere geistliche Musik erwägen würden. Es ist dies übrigens eine Dichotomie, deren tiefe kulturelle Verankerung sich auf dem Weg in den Kammermusiksaal zeigt: Was hören Sie denn in der Philharmonie?, fragt der migrationshintergründige Taxifahrer, der um ein Haar Fußballprofi geworden wäre, Bach? War das nicht dieser Nazi, der was gegen Juden hatte?

Der von Gerhard Oppelt gegründete und geleitete Charlottenburger Berliner Figuralchor ist ein Laienchor von erstaunlicher Qualität, für die das Wort ambitioniert viel zu schwach wäre. Man singt historisch informiert, ungleichstufig gestimmt, dynamisch und ausdrucksstark ohne Affekthascherei. Der Kinderchor Cantores minores ist heute auch dabei, bis hoch auf die Treppen und in die Seitenblöcke, was optisch und klanglich eine überwältigende Wirkung hat: als sänge die ganze Welt Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen.

In den beiden schlank besetzten Orchestergruppen des Ad-hoc-Ensembles Berlin Baroque, das auf alten Instrumenten spielt, sieht und hört man einige Musiker, die einem von der Akademie für Alte Musik bekannt vorkommen. Sie geben das energische Tempo bei hoher Durchhörbarkeit vor, das der Standard historischer Aufführungspraxis ist (und an die sich das moderne Ohr gewöhnt hat, so dass es die großen Bach-Aufnahmen etwa Karl Richters als Geißelung empfindet). Das hohe Niveau der Instrumentalisten zeigt sich erst recht in den solistischen Arienbegleitungen der ersten Geige (Elfa Rún Kristinsdóttir), Traversflöte (Andrea Klitzing) oder Viola da gamba (Sarah Souza-Simon) mit ihrem leisen, noblen Klang. Den Sohn des Konzertgängers fasziniert die rockige Theorbe in der Continuogruppe am meisten. Unter den fast durchgehend überzeugenden Sängern ragen der kurzfristig eingesprungene Tenor Johannes Weiss als sehr gesanglicher Evangelist, der auswendig singende Bariton Jörg Gottschick und die Sopranistin Stephanie Petitlaurent  heraus.

Nicht nur im Chor, sondern auch im Publikum im ausverkauften Saal sind eine Menge Kinder zu sehen, was an sich schon erfreulich ist, aber noch erfreulicher, da die Zuhörer ruhiger und konzentrierter sind als in manchem Konzert, wo die reiferen Semester unter sich sind. All diese Kinder haben jetzt die Matthäuspassion gehört… und werden sie wieder hören! Da ist einem ums Abendland nicht bang. (Man fragt sich, wie viele der Abendlandretter, die derzeit auf Straßen, Internetforen und Wahlzetteln toben, wohl am Karfreitag eine Passionsmusik gehört haben oder zu Ostern einen Fuß in eine Kirche setzen werden.) Auch der Sohn des Konzertgängers fands gut, am besten die Erzählungen des Evangelisten und die Bass-Arie mit dem bequemen und dem Kelch und dem Kreuz. Und den Chor sowieso, in dem alle was Verschiedenes singen, und trotzdem klingts zusammen. Außerdem sei die Matthäuspassion doch überhaupt nicht so lang, wie die Eltern gewarnt hätten.

Eine gelungene Aufführung, nach der man eigentlich nicht klatschen, sondern einfach still sein möchte. Aber das machen ja schon die beim anderen, bei der obszönen Gegenveranstaltung in der Oper. Großer Applaus also. Wir setzen uns mit Tränen nieder.

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7 Gedanken zu „25.3.2016 – Immer wieder freitags: Matthäuspassion mit Figuralchor und Berlin Baroque

    • Nein, sehr gute Frage! Für einen Laien natürlich schwer zu beantworten, welche Klangfacetten auf die Stimmung und welche auf alte Spielweisen und Instrumente zurückzuführen sind. Am deutlichsten hört man es natürlich, wenn ein Tasteninstrument einen Akkord spielt. Bei C-Dur oder G-Dur hört man keinen Unterschied, theoretisch müsste das sogar besonders „sauber“ klingen. Akkorde in abgelegeneren Tonarten klingen dagegen oft, plump gesagt, schief, weil die Terz „zu groß“ ist, z.B. H-Dur, erst recht Cis-Dur oder Gis-Dur oder so etwas. In der Matthäuspassion klingen dadurch bestimmte Passagen besonders dramatisch und der Kontrast farbig und ungehobelt zugleich.
      Außerdem liegt die alte Stimmung meist etwas tiefer, so dass der Klang insgesamt etwas wärmer ist.
      Sehr glatteisig natürlich, was das Ohr wirklich hört und was es hineinprojiziert.

  1. Eine wunderschöne, teilweise hintergründige Besprechung! Wenn man weiß, wie sich das „Ad-hoc-Ensemble Berlin Baroque“ zusammensetzt und „das hohe Niveau der Instrumentalisten[…] in den solistischen Arienbegleitungen der ersten Geige, Traversflöte oder Viola da Gamba“ so rühmt, sollte man vielleicht auch die Namen der Drei nennen: das würde den noch nicht „arrivierten“ jungen Musikern vielleicht weiterhelfen…

  2. Das war ja dann die richtige Einstimmung in dem Taxi zu dem Konzert. Ich habe heute Abend auch tränenüberströmt vorm Fernseher gesessen, gab einen Film aus den NL, Sunny Boy…..

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