Zwei klavieristische Großereignisse am Sonntag: Am Vormittag vollendet Yefim Bronfman seinen Prokofjew-Zyklus , am Nachmittag spielt Anna Vinnitskaya gemeinsam mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester die drei Klavierkonzerte von Béla Bartók.
Yefim Bronfman in der Staatsoper im Schillertheater
Wie schon bei den beiden vorhergehenden Rezitals mit Sergej Prokofjews Sonaten 1-4 und 5-7 ist der Saal nicht überfüllt, aber besser besucht als ein evangelischer Gottesdienst. Dass man in der trockenen Akustik des Schillertheaters wie um die Ecke hört, passt ganz gut zu Prokofjews Klaviersonate Nr. 9 C-Dur, die zwischen irritierender Schlichtheit und sinistrer Spätwerkhaftigkeit schwankt (und Swjatoslaw Richter enttäuschte, bevor er sie 1951 doch uraufführte). In dieser letzten Sonate sind statt starker Pranke flinke Finger gefragt. Yefim Bronfman ist ein sachlicher Virtuose und feinsinniger Kraftprotz, zugleich ein Pianist, dessen Agilität, Akkuratesse und Filigranität den Hörer angesichts gewisser körperbaulicher Merkmale (ohne von Wurstfingern sprechen zu wollen) immer wieder verblüffen. Mit ihrer Simplizität und den vielen Tonleitern erinnert Prokofjews C-Dur-Sonate fast an Mozarts Sonata facile. Aber Bronfman betont mit angespanntem Bassgrollen im Kopfsatz und zwielichtigen Tonrepetitionen im Diskant des folgenden Allegro strepitoso die möglichen Abgründe dieser relaxten, am Ende ganz friedlich auspendelnden Musik.
Gleichwohl ein etwas verlegen machendes Werk, die vorletzte 8. Sonate B-Dur ist eine ganz andere Hausnummer und Bronfmans Entscheidung einleuchtend, mit ihr den Zyklus zu beschließen. Sonst meist im Zusammenhang der „Kriegssonaten“ 6 bis 8 gespielt, bezieht sie ihre Kraft hier einmal nicht aus dem Kontrast mit der explosiven Siebten, sondern in Kombination mit der tiefenentspannten Neunten. Forte ma dolce lautet eine kuriose Spielanweisung im zweiten Satz, und so könnte man Bronfmans Klavierspiel generell beschreiben: Zwar kommt es im Finale zu äußersten Entladungen, bei denen man fürchtet, der Pianist könnte sich insonderheit den rechten Zeigefinger brechen. Aber Bronfman nutzt seine Kraft vor allem, um klare Linien zu zeichnen. Jedes Tempo, jedes dynamische Extrem erscheint in höchster Deutlichkeit: alle Anschlags- und Ausdrucksnuancen vom Wispern bis zum Donnern, vom silbernen Celestabimmeln bis zum Orchesterorkan – eine Sonate als unendliche Reise. Wie Prokofjews Klavierschaffen überhaupt, das Bronfman in diesem staunenswerten Zyklus präsentiert hat. – Zum Konzert
Anna Vinnitskaya in der Philharmonie
Bronfman spielt in dieser Saison auch die drei Klavierkonzerte von Béla Bartók (mit dem London Symphony Orchestra unter Valery Gergiev). Aber er tut das an drei Abenden, nicht an einem einzigen Nachmittag, wie es Anna Vinnitskaya mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Marek Janowski wagt. Der Konzertgänger begibt sich etwas skeptisch in die Philharmonie, da im Vorfeld selbst fundierteste Musikkritiker (Jan Brachmann in der FAZ) den leistungssportlichen Aspekt dieses Unternehmens hervorhoben, nicht die musikalische Verheißung.
Ein beruhigend menschliches Zeichen: Vinnitskaya braucht nach jedem Konzert eine Pause. Beunruhigend un- bis übermenschlich: Danach schreibt sie im Foyer Autogramme.
In Bartóks flagellantischem 1. Klavierkonzert steht das Schlagzeug im Zentrum des Orchesters. Anna Vinnitskaya trägt ein weinrotes Kleid mit cremefarbenen Streifen. Marek Janowski trägt einen schwarzen Anzug. Anfangs rätselt der Konzertgänger, wo Orchester und Solistin versehentlich auseinandergedriftet sind und wo es sich um korrekte Synkopen handelt. Später greift dann alles perfekt ineinander, nach Anna Vinnitskaya kann man die Metronome stellen, selbst ihr Rubato ist minutiös. – Zwei ältere Besucher links und rechts vom Konzertgänger in Block D halten unbeirrt von Rumor und Barbaro ihr Mittagsschläfchen.
Im 2. Klavierkonzert steht das Schlagzeug hinter dem Orchester. Anna Vinnitskaya trägt ein glitzerndes Pailettenkleid. Marek Janowski trägt einen schwarzen Anzug. Nach dem ersten Hammerklavier-Konzert (Steffen Georgi) funkeln die Klangfarben des Zweiten umso schöner, obwohl hier der athletische Aspekt (etwa die Kadenz im Kopfsatz) noch enormer ist. Atemberaubend der zweite Satz, in dem der so sachte wie herbe Streicherklang, gedämpft und vibratolos, im Wechsel mit Klavier und Pauke raunt. In der Mitte des Mittelsatzes, auf der Spiegelachse des symmetrischen Werkes, rattert alles, was das Zeug hält. – Ein Mädchen in Block A liest unbeirrt ihr Lustiges Taschenbuch.
Im 3. Klavierkonzert hat sich ein Xylophon zum Schlagzeug gesellt. Anna Vinnitskaya trägt ein rosa Faltenkleid mit schwarzem Umhang. Marek Janowski trägt einen schwarzen Anzug. An Vinnitskayas Händen ist noch kein Blut zu sehen, auch keinerlei Ermüdungserscheinungen werden hörbar. Den Choral im Adagio religioso geht sie langsam an, mit festem, glasklarem Anschlag; wie klares Wasser ihre Läufe und Arpeggien. Die samtweichen Streicher und zarten Holzbläser des RSB verschmelzen mit dem Klavier, ohne dass nur ein Ton verschwömme. So kompakt und frisch klingen Orchester und Solistin im Finale, dass man sehr bedauert, dass es von Bartók kein 4. Klavierkonzert gibt. – Zumal das unbeirrte Mädchen in Block A ihr Lustiges Taschenbuch noch nicht ganz durch hat.
Skepsis grundlos, sehr lohnender Nachmittag. Mal sehen, was Vinnitskaya als nächstes treibt, vielleicht alle neun Prokofjewsonaten an einem Abend? Oder mal vierhändig und tausendfingrig mit Bronfman? – Zum Konzert
Sie sind ein Held! Warum habe es nicht längst gehört (und in Begleitung der schönen Fremden (Liederkreis) findet sich die mir so vertraute Melodie …..). Sehr herzlichen Dank!
Wissen Sie vielleicht die 2. Zugabe des Herrn Bronfman zu benennen? Ich dachte an eine Klavierfassung eines Schumann-Liedes, habe jedoch leider die Melodie „verloren“ (und suche nicht den Faschingsschwank aus Wien, zunächst dankbar) … Sie machten mich fröhlich! …..
Hmm, wenn ich das noch wüsste. Spielte er nicht auch noch das Finale aus dem Faschingsschwank? Oder war das in einem der vorigen Konzerte? Er spielt ja immer dieselben paar Zugaben.
ach, vielen Dank der Mühe. Ich rätsele noch immer nach der Melodie. So klar eigentlich ….
Hören Sie doch mal ins Intermezzo, den 4. Teil vom Faschingsschwank. Ist das die verlorene Melodie?
Hier eine Aufnahme von Claudio Arrau:
https://m.youtube.com/watch?v=eCJWm9lJQxQ
Wie beim ersten Bronfmann-Konzert war ich absolut verhindert. Ich habe meiner Frau die Karte dagelassen, aber die konnte sich nicht aufraffen. Schadeschade. Vinnitskaya in drei unterschiedlichen Kleidern?? Heiliger Strohsack. Im Übrigen scheint das ja heiße Liebe zwischen Janowski und Anna V zu sein.