Als wäre Schubert allein nicht schon zerrüttend genug. Quasi als Nachschlag zum Toten- vulgo Ewigkeitssonntag hat Patricia Kopatchinskaja ein äußerst originelles Programm rund ums Sterben im allgemeinen und Franz Schuberts Der Tod und das Mädchen im besonderen gebaut, phantasiert, gewagt.
Ihr Partner bei diesem spannenden Unternehmen im Kleinen Saal des Konzerthauses ist das Saint Paul Chamber Orchestra aus Minnesota, das so wohl tönt, dass der Begriff swing state plötzlich die schönsten Assoziationen weckt. Die Website des 1959 gegründeten Kammerorchesters lohnt übrigens allein schon wegen des umfassenden (und kostenlosen) Aufnahmen-Archivs einen Besuch.
Zwischen den einzelnen Sätzen von Schuberts Quartett, das Kopatchinskaja für ein 20köpfiges Streichorchester bearbeitet hat, erklingt Musik aus mindestens 400 Jahren, die das Gehörte spiegelt, hinterfragt, bricht, vertieft. Das Einspielen des Orchesters geht direkt in die archaischen Klänge eines byzantinischen Gesangs über den Psalm 140 über, die Bitte um Rettung vor boshaften Feinden. Kopatchinskaja singt, man möchte sagen: betet diesen Psalm auf ihrer Geige, zart, tastend, während sie den verdunkelten Saal betritt und sich durch das stehende Orchester, das einen Bordunklang zugrunde legt, dem Publikum nähert. Als zweites Zwischenspiel erklingt die Melodie von Schuberts Lied Der Tod und das Mädchen D 531, dazu trägt Kopatchinskaja den Text von Matthias Claudius in einem rhythmisch hauchenden Sprechgesang vor. Das liest sich unmöglich, und es klingt auch unmöglich, aber es fasst das Herz des Hörers heftig an.
Das Mädchen:
Vorüber! Ach, vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Der Tod:
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund, und komme nicht, zu strafen.
Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
In einer fünfstimmigen Pavane von John Dowland (1604) werden fallende Tränen zu Musik, bevor sich im letzten Zwischenspiel der Saal erneut verdunkelt und die Ligatura von György Kurtág (1989) erklingt, ein Charles Ives‘ Unanswered Question reflektierendes Frage-Antwort-Mysterium zwischen zwei Celli auf der Bühne und zwei unsichtbaren Violinen. Ganz unerwartet beginnt schließlich das himmlische Silber einer Celesta zu funkeln. Ein geradezu metaphysischer Moment – allein weil er erstmals die Sphäre des Streicherklangs überschreitet. Wie es ansonsten nur Kopatchinskajas Stimme tut: Ruhelos, rufhaucht sie in das Violinsolo aus Kurtágs Kafka-Fragmenten, ehe die letzte Satz von Schuberts Quartett erklingt.
Angesichts dieser existenziellen Dimension widerstrebt es einem, auf musikalische Details einzugehen oder gar etwas zu bekritteln. Dennoch: Kopatchinskajas Bearbeitung von Franz Schuberts Streichquartett d-Moll D 810 für Streichorchester hat stellenweise eine paradoxe Wirkung, sie glättet nämlich den rauhen Klang der vier Einzelstimmen in einen wuchtigen, dennoch problematisch ausgeglichenen Sound. Zwar klingt es beileibe nicht so unvorteilhaft aufgeblasen wie etwa Dimitri Mitropoulos‘ schreckliche Fassung von Beethovens opus 131 für eine Streicher-Armee, die den Konzertgänger an das Hollywood-Remake eines sperrigen Autorenfilms erinnert. Aber auch hier geht durch die Verstärkung einiges an emotionaler Kraft verloren, trotz der engagierten Interpretation.
Eine Ausnahme sind die Variationen des Andante con moto, in denen durchs Ensemble wechselnde Quartettbesetzungen eine starke Wirkung erreichen. Da gelingt es der Bearbeitung, sich selbst aufzurauhen und zu zerfetzen. Und in der schaurigen Schluss-Tarantella mag der homogene Ensembleklang seine schreckliche Berechtigung haben.
Dennoch.
Ein ähnlicher Einwand könnte sich gegen Vojtech Saudeks Bearbeitung eines Streichtrios richten, das in der ersten Programmhälfte erklang: Die Partita des 1945 in Auschwitz ermordeten Gideon Klein bleibt, auch wenn die Stimmen verfünf- oder versechsfacht werden, ganz deutlich ein Trio, kein Orchesterstück. Die ungeheure Lebensenergie dieser an Janácek und Bartók erinnernden Musik im Angesicht des gewaltsamen Todes bleibt dennoch spürbar, im berührenden Mittelsatz und fast noch ergreifender in der unbändigen, dabei formvollendeten Freude der Rahmensätze.
Einschränkungslos wunderbar, ebenfalls vor der Pause, das Konzert für Violine und Streichorchester d-Moll des 12jährigen Felix Mendelssohn Bartholdy. Dieses Wunderkind hätte, wie Horst Scholz im Programmheft anmerkt, ein ähnliches Schicksal wie Gideon Klein ereilt, wäre er 100 Jahre später geboren worden. Wunderbar der fast barock konzertierende Gestus des ersten Satzes, der Kopatchinskajas Temperament sehr entgegenkommt. Keine Ahnung, ob der hauchzarte, fast unhörbare Klang, mit dem sie im zweiten Satz intoniert, eine der bodenlosen Freiheiten ist, die Beckmesser und Philister dieser Geigerin ankreiden. Aber es klingt hinreißend, genau wie das fuchsteufelswilde Katz- und Maus-Spiel im Finale: Mal stellt die Geige sich tot, dann springt sie unversehens los und zerkratzt dem Tutti das Gesicht.
Also, bei allen dennochs: Pat Kop ist ein Erdgeist und doch ein Phänomen, das nicht an Zeit und Ort gebunden ist. Wer könnte sonst an vier Orten zugleich Artist in Residence sein? In ihrer Berliner Residenz gibt sie demnächst ein Konzert für Kinder ab 6 und ein Konzert für Kinder von 0 bis 99 mit Teodor Currentzis.
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Schönes Programm. Die frühen Mendelssohn-Sachen sind sehr schön. Da haben die 100-Jährigen aber auch mal wieder Pech.
Ans Oktett, das Ms mit 16 geschrieben hat, kommts nicht ran, aber dennoch!