In diesem Konzert weiß man nie, wann man sich schnäuzen kann: Im Finale von Joseph Haydns 47. Sinfonie wagt man es ebensowenig wie in C.P.E. Bachs Concerto d-Moll, zu abrupt folgen auf heftigste Bewegung plötzliche Pausen und überraschende Pianissimi. So hält der Nachbar des Konzertgängers minutenlang sein Taschentuch vor die Nase und traut sich doch nie, es zu benutzen, aus allzu berechtigter Sorge, in eine unerwartete Stille zu tröten. (Bei Mahler weiß man immer, wann man sich die Nase putzen kann, ohne zu stören.)
So lässt sich das Etikett Sturm und Drang unmittelbar physisch erfahren. Diesen Titel hat das Freiburger Barockorchester seinem ersten Berliner Konzert der jungen Saison gegeben. Die lange als Vorklassik beiseite kategorisierte Musik der Bach-Söhne oder auch des mittleren Haydn braucht heutzutage keine Rehabilitations- und Rechtfertigungsbemühungen mehr, sondern spricht unmittelbar an, zumal wenn sie auf diesem Niveau gespielt wird. Verve und Präzision des FBO pusten einen fast aus dem Kammermusiksaal. Ein Mann im Fußballtrikot (nicht des SC Freiburg) und so manche Kinder sind in diesem Konzert zu sehen, sie werden es nicht bereut haben.
In Joseph Haydns Sinfonie Nr. 47 G-Dur Hob. I:47 (1772) setzt die nach Moll verhexte Reprise des Kopfsatzes wie ein Kanonenschuss ein, so wie der fahle Streichereinsatz im Poco adagio nach einer gedehnten Pause wie ein emotionaler Kanonenschuss wirkt. Das Menuet al Roverso ist ein Palindrom, die zweite Hälfte ist die erste Hälfte, rückwärts gespielt. Dass man so etwas hörend (ein wenig) nachvollziehen kann, erstaunt den aus dem 20. Jahrhundert gebürtigen Hörer, dessen Muttermilch selbstverständlich Zwölftonmusik und Serialismus waren, wo man von all den Krebsgängen und Umkehrungen immer nur lesen darf, aber nie etwas hört.
In Carl Philipp Emanuel Bachs Concerto d-Moll Wq. 17 (1745) entzückt der edle Klang des Lagrassa-Hammerklaviers mit seinen vier Pedalen, das einen modernen Konzertflügel wie einen brutalen SUV erscheinen lässt. Kristian Bezuidenhout spielt und leitet das Orchester vom Flügel aus. Der zweite Satz dieses Klavierkonzerts beginnt so betörend singend, dass man zunächst der Vorsehung dankt, dass dieses Stück Musik nie (wie manches Mozart-Andante) von der gewissenlosen Schöne-Melodien-Musikindustrie entdeckt und verwurstet wurde. Doch dann zeigen die unvorbereiteten heftigen Einwürfe der Streicher, dass der Komponist selbst die Vorsehung war, die das Stück gegen komatös zurückgelehntes Hören imprägniert hat. Was für eine aufwühlende Erzählung in Tönen! Kühne, wortlose Musik nannte Klopstock das, wie man in der gelahrten Konzerteinführung von Professor Helmut Well lesen kann.
Die vielleicht überraschendste Entdeckung des Programms ist Johann Christian Bachs vor Energie berstende Sinfonie g-Moll op. 6 Nr. 6 (vor 1769). Das Thema des 2. Satzes Andante più tosto tritt so theatralisch auf, dass man, wäre es von Mozart, gleich schlau rufen würde: Typisch Mozart! Ein Eindruck, der sich durch diese ganze dunkle, dramatische Sinfonie zieht. Völlig überraschend verhaucht der Schluss, ein Understatement wie Donnerhall, wieder so ein stiller Kanonenschuss.
Fast ist man versucht zu glauben, Mozart sei im Vergleich zu seinen Vorgängern ja doch eigentlich ein Langweiler gewesen – da belehrt Bezuidenhout den sich verirrenden Hörer eines Besseren. Sein vielgerühmter Mozart macht das Konzert Es-Dur KV 449 (1784) zu einem Ereignis. Die ewigen Läufe, die auf modernen Flügeln süßlich klingen können und den Hörer ratlos machen, beginnen ungekannt zu leuchten, wenn der Hammerflügel seine Register vom dunkelwolkigen Brummen bis zum zitherartigen Flirrklang zieht. Erst recht die Kadenz. Das Andantino ist ein Wunder an Farben und Facetten. Wer solchen Mozart hört, ist für Mozart an Monster-Instrumenten in Molochsälen unwiederbringlich verloren.
Auch wenn sich’s da besser schnäuzen lässt.