22.1.2017 – Überraschungsgastlich: Abschlusskonzert des Ultraschall-Festivals

Ein Irrtum ist zu korrigieren. Viele Musikhistoriker und Konzertführer behaupten, Anton Bruckner hätte keine Schüler und direkten Nachfolger gehabt. Das ist falsch: Bruckner hat einen Schüler und direkten Nachfolger. Er heißt Heinz und lebt in Niederbayern.

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Überraschungsgast bei Ultraschall

Zum Abschluss des Ultraschall-Festivals für neue Musik, das sich dieses Jahr dem Thema „Stimme“ widmete, spielt das Deutsche Symphonie-Orchester im rbb-Sendesaal die 5. Sinfonie „Jetzt und in der Stunde des Todes“  des 1946 geborenen Heinz Winbeck. Winbeck spricht mit der Stimme Bruckners, nicht des Vokalkomponisten, sondern des Symphonikers. Sein Werk nach Motiven insbesondere des Finales der IX. Symphonie (das es ja nicht gibt) umkreist Bruckner nicht indirekt und von ganz weit weg, wie es etwa Aribert Reimann in Nahe Ferne mit Beethoven tut, hat auch wenig mit Hans Zenders komponierten Interpretationen zu tun. Ursprünglich sollte Winbecks Werk In Bruckners Kopf heißen, das hätte schon gepasst.

Alle Bruckner-Zutaten sind da: jede Menge Streicherteppiche, absteigende Hornintervalle, kontrapunktierte Choräle, sogar vier Wagnertuben und ein Beckenschlag. Dennis Russell Davies dirigiert es auch, wie Barenboim oder Thielemann Bruckner dirigieren, d.h. nicht strukturorientiert, sondern auf Biegen und Herzbrechen. Dass es nicht Bruckner ist, erkennt man am erweiterten Schlagwerk (mit penetranten Röhrenglocken) und eingestreuten Dissonanzen (oder was zu Bruckners Zeit dissonant geklungen hätte). Dass es sehr wohl Bruckner ist, erkennt man am Leben und Weben dieses Organismus, der so faszinierend wie grotesk Bruckners Klangphänomenologie folgt: an- und abschwellend, gewaltige Ballungen, heftige Entladungen. Da kann man sich nun hörschämen oder halt, weil es ja eine Stunde dauert, drauf einlassen: Das ist so regressiv, dass es schon wieder progressiv ist, so bizarr, dass man es schon wieder grandios finden muss. Oder kann. Ein Teil des Publikums ist not amused und buht wütend, ein anderer hält mit heftigem Beifall entgegen.

Vorschlag zur Güte: Dass man am Ende eines Neue-Musik-Festivals Bock auf Bruckner hat, wer verstünde das nicht?

Dem eigentlichen Festival-Thema, der Stimme, widmet sich dann das letzte Werk. An je zwei Tagen im Heimathafen und im Radialsystem (dazu im Tagesspiegel) waren Stimmen in all ihren Facetten zu erleben, einzeln und chorisch, deklamierend und sprechend, auch keuchend, haspelnd, überhaupt aus Polydysphonie musikalischen Reichtum schürfend. Und auch mal singend.

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Richard Boulez

In Philipp Maintz‘ Triptico vertical geht es traditionell zu, das aber sehr schön. Die amerikanische Sopranistin Marisol Montalvo japst nicht, schreit nicht, hechelt nicht, sondern singt. Ihre Stimme klingt nicht hellsamtblau, wie der sich sympathisch verzettelnde Komponist im Vorab-Interview behauptet, sondern eher schwülviolett, warm und erotisch, großer Ambitus mit eindrucksvoller Höhe. Dazu eine Bühnenpräsenz wie Carmen, was in eigenartigem, aber reizvollem Kontrast zur tiefenbohrenden Lyrik von Roberto Juarroz steht. Montalvos Stimme schwingt und klingt vor sirrenden, flirrenden, klirrenden Orchesterklängen. Halb Strauss, halb Boulez. Nachdem die Stimme in himmelshöchste Töne entschwunden ist, bohren und brummen sich in einem Zwischenspiel zwei Kontrafagotte dem Erdkern entgegen. Erlesen.

Nur die Idee, ein linear verlaufendes Musikstück, bloß weil es dreiteilig ist, Triptychon zu nennen, ist eine Schnapsidee. Da müsste das Mittelstück schon ganz anders auf die Außenteile zugreifen, um dem Zentrum eines Altarbilds zu ähneln.

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6 Gedanken zu „22.1.2017 – Überraschungsgastlich: Abschlusskonzert des Ultraschall-Festivals

  1. Winbeck schreibt Musik so wie er in seinem ehem. Pfarrhaus residiert: stockkonservativ. Da beamt sich einer allein schon vom gesamten Mobiliar, das stilecht daherkommt, aber den Kitsch des biederen Arrangements nicht scheut, kompromisslos in eine vergangene Welt zurück. Die Röhrenglocken sind dann die Glocken der direkt ans Pfarrhaus stoßenden Kirche, Winbecks St.Florian. Eine folgerichtige Entwicklung war nicht zu erkennen. Unvermittelt taucht eine Fuge auf und bricht zu früh ab, anscheinend nur als Beweis, eine solche zu beherrschen. Die dauernde Zitiererei macht das Hören zu einem durchweg nervösen, immerwieder versucht man die Quellen zu verorten. Die Plünderung hat etwas Obszönes, sie maßt sich an und wird bedrohlich, gerade hin zum bombastischen Schluss, auch er ohne Vorahnung, eine Totalität, nur auf sich selbst bezogen, die die Brucknersche evolutive Gewalt nichts weiter als übertrumpfen will.

  2. Flüchtige Suche zeitigte Erfolg bei der 3. Sinfonie; zur 5. gibt es wohl keinen Tonträger? Was die Schüler Bruckners oder mahlers angeht, das ist ein weites Feld … 🙂

    • Nein, scheint es nicht zu geben. Wurde wohl 2009 oder 2010 vom Bruckner Orchester Linz uraufgeführt, ebenfalls von Russell Davies. Ob es viele Folgeaufführungen geben wird, wage ich zu bezweifeln, schon aufgrund der Länge.
      Weites Feld zu Schülern Bruckners und Mahlers: Toben Sie sich gern aus! 😉

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