2.9.2016 – Raumzeitwandernd: GrauSchumacher Piano Duo und Isabelle Faust eröffnen das Musikfest

Salzburg hat eine Ouverture spirituelle, das Musikfest Berlin eine Art Ouverture conceptionnelle: Vor dem ersten dicken Sinfoniekonzert gibt es zwei Kammerkonzerte, eins über den Raum und eins über die Zeit. Bevor Isabelle Faust Luigi Nonos La lontananza aufführt, spielt das GrauSchumacher Piano Duo: Le temps, mode d’emploi (2014) von Philippe Manoury.

Manoury, geboren 1952, dessen persönliches Woodstock Stockhausen war (so Thomas Meyer im Programmheft), ist ein angenehmer Herr, der auch im siebten Lebensjahrzehnt keine Kompromisse bei seiner Frisur macht, vor dem Konzert sympathisch verloren im Foyer des Kammermusiksaals herumschlurft und jedem anderen Schlurfer, der ihn verstohlen ansieht, freundlich die Hand schüttelt. Nach dem Konzert applaudiert er dem Publikum fürs Zuhören, was gar nicht nötig wäre, da seine Musik keine Qual ist.Laurent_de_La_Hyre_(follower)_Tanz_zur_Musik_der_Zeit

Man kann sich Le temps, mode d’emploi, die Gebrauchsanweisung für die Zeit, im Internet anhören, was aber witzlos ist, weil dem Stück dann die räumliche Dimension der Live-Elektronik (Thomas Goepfer) fehlt. Womit schon mal klar wäre, dass sich über Zeit nur im Raum philosophieren, erst recht aber musizieren lässt. Tatsächlich bringt der programmatische Bezug nicht so viel, denn welche Musik würde nicht von der Zeit handeln? Aber als kompositorische Krücke mag sie ihren Sinn haben. Le temps, mode d’emploi ist ein (wenn auch den Konzertgänger nicht durchgängig fesselndes und mit gut 50 Minuten keinesfalls zu kurzes) an Reizen überreiches Klangbad, vom verdammt spielstarken GrauSchumacher Piano Duo in makelloser Geistesgegenwart dargeboten. Die beiden Steinway-Flügel bleiben stets Quelle und Zentrum aller Klänge, von außen echoen, respondieren, provozieren vier Geisterklaviere aus sechs Lautsprechern. So mäandert die Musik zwischen Hypertoccata und himmlischem Gamelan-Orchester, schließlich staut sie sich zu einer mächtig gewaltigen Klangexplosion zusammen, ehe alle Bewegung verebbt. – Zum Konzert

Doch im Flaschenklirren an der Bar klingen die rasenden Tonrepetitionen fort, ehe nach einer anderthalbstündigen Pause

Isabelle Faust: La lontananza nostalgica utopica futura (1988) von Luigi Nono

zu Gehör bringt. Die Musik schwebt, ehe Faust auf Sammetschuhen den abgedunkelten Saal betritt, schon im Raum: wie von Geisterhand hineingezaubert. Dem Klangregisseur André Richard stehen acht Tonspuren zur Verfügung, mit Improvisationen und Fragmenten, die Gidon Kremer eingespielt hat, aber auch Gesprächsfetzen sowie Arbeits- und Alltagsgeräuschen, die Luigi Nono elektronisch verarbeitet hat.

Als Isabelle Faust auftritt, wandert sie auf Sammetschuhen zwischen den auf Podium und Treppen verteilten Notenpulten umher, zögert, lauscht, den Kopf nach der Musik wendend: eine Madonna des Hörens. Und beginnt erst dann zu spielen, reagierend; Richard reagiert seinerseits auf das Singen, Fragen, Wispern der Geige, wählt spontan aus den acht Zuspielern, lässt sie auch verstummen. Eine äußerst intime Hörerfahrung, bei aller strengen Konzeptualität in jedem Moment neu geboren.

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Nono hat dieses Werk zwei Jahre vor seinem Tod dem Kammermusiksaal, den er Kleine Philharmonie nannte, auf den Raum geschneidert. In einem schrägen Programmgedicht (in dem auch dem Studio Sperimentale SWF di Freiburg ein lyrisches Denkmal gesetzt wird) vergleicht Nono die Begegnung von Solovioline, Live-Elektronik und Tonbändern sehr sinnig mit einem Madrigal. Tatsächlich haben diese fragenden, suchenden Klänge eine ferne, mystische Aura, dabei sind sie durchdrungen vom Schmerz des 20. Jahrhunderts.

Während Isabelle Faust, auf Sammetschuhen vom Podium in die Ränge wandernd, unsichbar werdend, erklingend, verstummend, weiterwandernd, allmählich den Saal umkreist, wünscht sich der Konzertgänger, diese Musik möge nie aufhören.

Aber das tut sie ja auch nicht, denn die Zeit steht still, der Raum weitet sich ins Unendliche. – Schließlich verlässt Faust auf Sammetschuhen den Saal, doch ihr Ton bleibt noch eine Zeit lang im Raum, live-elektronisch aufgefangen, doch kein Echo, sondern scheinbar der Ton selbst, von der Spielerin gelöst. – Man möchte still in die Sternennacht gehen.

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