Ist man ein Depp, wenn man bei den Nuages die Augen schließt und sich Wolken vorstellt? Vielleicht hat der Konzertgänger dieses Bedürfnis nicht wegen Debussy, sondern weil er auf dem Weg in die Philharmonie Schreckliches erlebt und erhört hat: eine heftig bumpernde Anfeierprobe am Vorabend des Tages der Deutschen Einheit, vor dem Brandenburger Tor, das durch ein funkelndes Riesenrad verdeckt ist, Partystimmung at its worst, deutsches Dismaland. Da müssen sich Claude Debussys Trois Nocturnes (1897-99) erst den Weg zum geschändeten Gehör verschaffen.
In Nuages blähen sich keine impressionistisch verschwommenen Gebilde, sondern in allen Grautönen abgestufte Wolken am nächtlichen Himmel. Das Englischhorn spielt eine wichtige Rolle, und der Konzertgänger muss kurz die Augen öffnen, um dem ausgezeichneten Englischhornisten Thomas Herzog zuzusehen, der stets mit eigentümlich ausgestreckten Beinen bläst. Das Rundfunk-Sinfonieorchester skizziert die Linien dieser Musik so klar, dass die Wolken auch bei offenen Augen nicht flöten gehen. Im Anschluss gebietet Marek Janowski, als das Pausengehuste zu eskalieren droht, energisch den Einsatz der Fêtes: entfesselte Festmusik, wie man sie den Menschen vor dem Brandenburger Tor wünschte, mit viel Laut, aber auch geheimnisvollem Marschtanz-Wispern von Pauke, Harfe, gestopften Trompeten oder leisen Späßchen von Flöte und Tuba. Zum Abschluss summen die Sirènes von der Empore G Sonderplätze. Janowski regelt viel mit der Linken nach, es ist faszinierend zu hören, wie sein Orchester und die Damen des MDR-Rundfunkchors auf jeden Fingerzeig reagieren. Auch wenn das über zehnminütige Sirenengesumme nicht Debussys unermüdendste Komposition ist.
Ziemlich eso klingt auch der Chor in Karol Szymanowskis 3. Symphonie B-Dur ‚Das Lied von der Nacht‘ (1914-16). Sie hat den ganz speziellen Szymanowski-Sound, der im unvergleichlich schönen Stabat Mater von 1926 gipfelt. Das Lied von der Nacht ist ein überwältigender Klangrausch, in dem man Gott und die Sterne und noch viel mehr sieht, tanzende Derwische und schöne Huris; eine musikalische Ekstase, deren Voraussetzung das ist, was Janowski in lustiger Sachlichkeit Herstellung der Orchesterkohäsion nennt. Die kammermusikalischen Inseln sind ebenso präzise wie der entgrenzte Taumel; mystisch, aber deutlich singt auch der russische Tenor Dmitry Korchak den vom Persischen ins Deutsche und dann ins Polnische übersetzten (!) mittelalterlichen Sufi-Text.
Im November wird der Konzertgänger 40 Jahre alt und wünscht sich: einen Szymanowski-Zyklus in Berlin, inklusive der Oper Król Roger.
Robert Schumanns Symphonien hingegen würde der Konzertgänger, wäre er Dirigent, gewiss meiden. Janowski aber dirigiert sie mit diesem Orchester seit 2001 zum dreizehnten Mal. Irgendwas muss also dran sein. Vielleicht hat es mit Orchestererziehung zu tun. Dem Konzertgänger jedenfalls, bei aller Sympathie für Schumann und Liebe zu seiner Klaviermusik, erschließen sich diese Symphonien nicht.
Nicht mal durch eine zweifellos erstklassige Aufführung wie diese: Die 4. Symphonie d-Moll (revidierte Fassung, 1851) geht Janowski lebhaft an, ziemlich schnell und scharf akzentuiert. So treten die gesanglichen Abschnitte im Kopfsatz schön hervor. Der kreisende Leerlauf und Aktionismus der Symphonie bleibt trotzdem mühsam; ohne die herrlichen Violingirlanden in den Mittelteilen des zweiten (Solo von Rainer Wolter) und dritten Satzes würde der Konzertgänger sie kaum aushalten. Dann die Einleitung zum Finale: einer dieser verheißungsvollen Satzanfänge in Schumannsymphonien, ein großes Versprechen, doch dann… wieder das leere Kreisen.
So schlimm wie das Bumpern am Brandenburger Tor ist es aber nicht.