2.10.2016 – Sachlich schwermütig: Christian Gerhaher singt Dvořák und Schumann

Konzert von superlativischer Sachlichkeit: höchste gegenseitige Durchdringung von Wort und Ton in vollendeter Schönheit beim Liederabend von Christian Gerhaher und Gerold Huber.

dvorakEr beginnt bereits in Verklärung, mit Antonín Dvořáks Biblischen Liedern op. 99 (1894). Es ist immer gut, mit einem Gebet anzufangen, einen Liederabend erst recht. Gerhahers völliger Verzicht auf sängerische Manierismen steigert die Wirkung dieser fast schmucklosen, persönlichen Lieder. Wie durchdacht der Sänger jede Silbe gestaltet, erschließt sich auch, wenn man kein Wort vom tschechischen Text versteht. Denn, einziges Ärgernis dieses Abends, die Programmhefte sind frühzeitig ausverkauft, wie schon häufiger bei Liederabenden der Stiftung Berliner Philharmoniker. Der Konzertgänger ist zwar strikt gegen die elende Textmitleserei, und zwar nicht nur wegen des störenden Umblattelns während des Vortrags. Aber davor lesen möchte man die Texte vielleicht schon, und nicht jeder Besucher ist technisch so vif, dass er sich die Dvořák-Texte auf dem Smartphone reinziehen kann.

Bei Robert Schumann stellt sich das Problem nicht, denn bei Gerhaher versteht man jedes Wort.

In den Sechs Gedichten von Nikolaus Lenau und Requiem op. 90 (1850) umschifft Gerhaher jede schilfige Sonnenuntergangsstimmung durch eine ungeheuer nuancierte Farbgebung. Nicht erst das Schlusswort auferstehen im berühmten zweiten Lied Meine Rose, sondern schon das wieder komm! am Ende des etwas simplen Fein Rößlein tönt Gerhaher so subtil ab, dass in der Brust des Zuhörers etwas zerreißt; der Vorhang zu den letzten Dingen, meint er tollkühn ahnen zu dürfen. Unfassbar dezent das Wort Tod am Ende des sechsten Liedes. Das abschließende Requiem kommt dem Konzertgänger in seiner wogenden Ekstatik zwar wie eine (wunderschöne) Fehlkomposition Schumanns vor, aber wenn im Schlussvers zu des Heilands Wohnung ein der letzte Vokal sich in atemberaubender Weise öffnet, ist es, als beträte man tatsächlich jenes ferne Heim.

 

schumann-photo1850Obwohl Gerhaher jedes Klischee und jede Forcierung vermeidet, wäre der Veranstalter gut beraten, darauf hinzuweisen, dass er keine Haftung übernimmt, wenn der Hörer dieser Stücke unwiederbringlich in romantischer Schwerstmut versinkt. Um so mehr, da ein weiterer später Zyklus Schumanns, die Drei Gesänge op. 83, mit einem der ergreifendsten Schumannlieder überhaupt endet, dem Einsiedler. Gerhahers letztes durchfunkelt und das schattierte Schlussbeben des Klaviers lassen die Zeit stillstehen.

Abrupt, aber lebensrettend wirkt es, wenn Gerhaher direkt die Kerner-Lieder (Liedkreis op. 35) aus Schumanns helleren Tagen folgen lässt. Der originellere und spritzigere Klaviersatz dieser Lieder lässt auch den Pianisten Gerold Huber stärker hervortreten, der freilich schon zuvor fasziniert hat: von breitschultriger und spitzfingriger Intensität, scheint es anfangs fast, als wäre er völlig in sein eigenes Spiel versunken. Die sensible Verschmelzung mit Gerhahers samtigen Tönen, die man hört, beweist selbstverständlich das Gegenteil. Im Wanderlied sieht man ihn dann sogar mitsingen.

Gewöhnungsbedürftig ist höchstens, wie Huber, während er mit dem Fuß eine entrückte Schlussfermate hält, bereits zum nächsten Lied weiterblättert. Hoffentlich nicht deshalb meint ein Teil des Publikums, in jeden Schlusston reinhusten zu dürfen! Gerhaher verzieht keine Miene, als er in Lied 11 singt: Dass du so krank geworden, wer hat es denn gemacht?  Und beglückt das Publikum noch mit der Zugabe Mein schöner Stern, dem Rückertlied op. 101, Nr. 4 von Robert Schumann.

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Ein Gedanke zu „2.10.2016 – Sachlich schwermütig: Christian Gerhaher singt Dvořák und Schumann

  1. zu Alice Schwarzer
    hätte
    diese Schwarte eigentlich überhaupt jemand gekauft? Es gibt so viele tolle Bücher, die sich lohnen zu lesen, wie eines, das ich gerade gelesen habe
    Allbrecht Selge, Die trunkene Fahrt
    oder gestern zu einer Lesung und gleich drauf gestürzt
    Jahid Sehouli, Und von Tanger fahre die Boote nach nirgend.
    Ein faszinierender Mensch…

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