19.2.2017 – Sprachlos: Scartazzinis „Edward II.“ an der Deutschen Oper

king_edward_ii_of_englandUm mal mit einer Äußerlichkeit anzufangen: Warum machen sich neue Opern gerne klein, indem sie auf eine Pause verzichten? Nun befinden wir uns im zweiten Jahr, da die Deutsche Oper Berlin höchst löblich beschlossen hat, alljährlich eine große Uraufführung zu stemmen. Und wie im letzten Jahr bei G. F. Haas‘ Morgen und Abend vergehen auch heuer bei Andrea Lorenzo Scartazzinis Edward II. neunzig ununterbrochene Minuten wie im Fluge.

Aber dass sie wie im Fluge vergehe, ist ein zwiespältiges Lob für eine Oper, zumal wenn der Regisseur Christof Loy sie im Interview gar mit Giacomo Meyerbeers Grand Opéra Die Hugenotten vergleicht.

Hier also mal ein Lob der Pause: Der eine mag sie nutzen, um Prosecco zu schlürfen und Bekannte zu treffen. Der andere, um das Gehörte und Gesehene zu reflektieren und Erwartungen ans Kommende wachsen zu lassen. Und noch ein anderer, um zu gehen. Alles wichtig für die Oper! Warum also keine Pause bei neuen Opern? Will man das Publikum am Abhauen, am Reflektieren oder am Sekttrinken hindern? Oder geht es einfach darum, schneller zur Premierenfeier zu gelangen, weil man ohnehin davon ausgeht, dass es kaum Folgeaufführungen geben wird?

Bei Edward II. sind vier angesetzt, bis zum 9. März. Und dem erstaunlich einhelligen Applaus bei der Uraufführung nach könnten es in kommenden Spielzeiten mehr werden.

Woher nun die völlige Buhfreiheit der Premiere? Könnte zwei Gründe geben: Zum einen kommt die Geschichte des 1327 ermordeten schwulen englischen Königs (die historische Wirklichkeit war recht komplex) hier als engagiertes Plädoyer gegen Homophobie auf die Bühne.

Zum anderen ist die Musik des Schweizer Rihm-Schülers Andrea Lorenzo Scartazzini auf so eingängige Weise zeitgenössisch, dass das Ohr nichts einwenden mag. Der ausgesprochen geradlinige Text von Thomas Jonigk, sprachlich Welten entfernt vom elisabethanischen Edward II. des Christopher Marlowe, ist jederzeit gut verständlich, Übertitel überflüssig. Da geht keine Sprache verloren, da wird kein Satz verhackstückt, kein Wort zerfetzt.

Gerade deshalb könnte man sagen: Diese Musik ist, wie der vertonte Text, sprachlos. In krassem Gegensatz zu dem eindrucksvollen Film Edward II. von Derek Jarman, dem in seiner reduzierten Bildsprache der Spagat zwischen Marlowes Sprache und Cole Porters Everytime We Say Goodbye gelingt:

Scartazzinis Musik hat viele reizvolle Momente, vor allem für die albtraumhaften Züge von Edwards Geschichte: anschwellende Cluster, bedrohliche Tonbandeinspielungen (die allerdings immer von vorn kommen, nicht wie behauptet den Hörer einhüllen), irritierende Instrumentationen (Glasharfe). Groß besetzt, aber feinteilig im Ergebnis. Das Orchester der Deutschen Oper unter Thomas Søndergård macht seine Sache ohrenscheinlich gut. Das klingt alles gefällig und gekonnt, aber nicht zwingend. Kaum ein Klang bleibt über den Moment hinaus oder weckt den Wunsch, noch einmal gehört zu werden. Im Kontrast zu den weitschweifigen musikalischen Erläuterungen im Programmhaft inklusive zahlloser Gewährskomponisten (Berlioz, Mahler, Britten, Schostakowitsch, Messiaen…) wirkt das doch unbefriedigend.

Vor allem aber, und gerade angesichts des gelungenen kinoartigen Angstsounds, der Edwards Träume untermalt: Wo ist die musikalische Sprache der Liebe, des Begehrens?

Am ehesten in den Stimmen. Mit dem mitreißenden, aufwühlenden Bariton Michael Nagy und dem exakt und schön artikulierenden Tenor Ladislav Elgr steht ein Paar Edward / Gaveston auf der Bühne, das gesanglich und darstellerisch sehr einnimmt. Nur dass die beiden zu oft Platitüden singen und darstellen müssen.

1292_isabella_1Agneta Eichenholz hat ein leicht metallisches Timbre, das gut zu der erst verschmähten, dann mörderischen Königin Isabella passt; die Partitur zwingt sie manchmal zum Forcieren. Ein ganz starker kompositorischer Einfall ist es, wenn Isabellas Einsamkeit spürbar wird, indem ihre Stimme elektronisch verdoppelt wird und sich selbst nachklingt.

Der kindliche Prinz Mattis van Hasselt singt und spielt sehr beeindruckend. (Man wünscht dem jungen Darsteller allerdings eine gute psychologische Betreuung, wenn man ihn detailliert von den sadistischen Gräueltaten singen hört, mit denen der Geliebte seines Vaters zu Tode gebracht wird.) Der schönste Gesangs-Moment ist, wenn seine kindliche Stimme zu der Stimme des toten Gaveston und des Engels Jarrett Ott tritt, der dem eingekerkerten Edward den nahenden Tod erleichtern will: Knabensopran, Tenor und Bariton, wenn das keine Verklärung ist. Als noch der Frauensopran dazu kommt, findet selbst Isabellas Begehren seine Versöhnung.

Der Einfall des Librettos aber, Edward unmittelbar vor seiner bestialischen Ermordung durch spirituelle Floskeln mit seinem Schicksal zu versöhnen, wirkt abgeschmackt. So wie die ganze semi-religiöse Wendung des Stoffes nicht überzeugt und die Figur des Engels, der Edward begleitet, zu schnell implodiert. Auf ungute Weise albern ist die Idee, am Ende ausgerechnet eine geführte Touristengruppe als Vision einer frei und tolerant sich bewegenden Gesellschaft auf die Bühne zu schicken.

Unter dem schwachen Libretto leiden, trotz durchweg guter Sänger, auch die weiteren Rollen: der Intrigant Mortimer (Andrew Harris) und mehr noch der bigott-notgeile Bischof (Burkhard Ulrich), eine Figur auf CSD-Straßentheater-Niveau, die weder Brüche noch Dämonie hat. Die beiden Figuren aus dem Volk, die in mehreren Zwischenspielen auftreten, wirken wie aus einem Ralf-König-Comic minus Witz. Die Fähigkeiten von Gideon Poppe und erst recht Markus Brück sind da verschenkt. Die Figur des Mörders (James Kryshak) wird ausgewalzt, ohne dass dabei viel herumkäme.

Die Regie von Christof Loy hat ihre starken Augenblicke, etwa wenn am Anfang die große kinderreiche Menge verächtlich ihre eigenen Söhne ausspuckt, nur weil sie Männer lieben. Das berührt und schmerzt. Auch die Aktualisierungen wie die gehässige und angstbesetzte Manif-pour-tous-Demo sind okay. Die haben das verdient. An der Opéra Garnier wär’s wahrscheinlich ein Skandal. Aber insgesamt bestärkt die Regie die Tendenz des Librettos, den Stoff (gerade im Vergleich mit Jarmans großem Film) zu zerfasern und zu zerplappern. Die Musik setzt dem etwas entgegen, aber nicht genug.

Fazit: Hingehen oder nicht? Keine Frage, hingehen natürlich, selbst urteilen! Damit die Deutsche Oper daran festhält, jedes Jahr eine Novität zu wuppen. Irgendwann wird was für die Ewigkeit dabei sein, und dann wird man dabeigewesen sein.

Weitere Kritiken: inforadio / Neue Musikzeitung / Tagesspiegel / Kulturradio / Welt / MoPo  /  NZZ

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