17.2.2017 – Aporkalüptisch: Simon Rattle & Berliner Philharmoniker spielen Ligetis „Le Grand Macabre“

Go, Hauptwerke des 20. Jahrhunderts, go! Eine Woche nach dem Violinkonzert mit Patricia Kopatchinskaja führen die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Simon Rattle schon wieder György Ligeti auf: die Oper Le Grand Macabre, als von Peter Sellars inszeniertes Konzert. Diese durchgeknallte Anti-Anti-Oper über den abgeranzten Untergangspropheten Nekrotzar im Breughelland passt natürlich bestens ins Jahr 2017, da ein miserabel getarnter Nekrotzar II gerade „mächtigster Mann der Welt“ spielt. Steht zu hoffen, dass der Abklatsch im Weißen Haus wie sein Ligeti-Vorbild bald vor Ärger einschrumpft und, sich hin und her kugelnd, im Boden versickert.

bruegel-deathLe Grand Macabre, 1978 entstanden, 1996 operngemäß überarbeitet (manche sagen geglättet), mag ein Werk für die Ewigkeit sein. Aber die Brillanz einiger Einfälle scheint doch ein Verfallsdatum zu haben, der Witz der konzertierenden Autohupen und Klingeln hat sich schnell abgenutzt. Insgesamt jedoch entwickelt Le Grand Macabre einen erstaunlich aggressiven und direkten Drive.

Casual Doomsday

Das liegt natürlich vor allem an Ligetis aufregender Musik, deren bizarre und witzig verrätselte Einzelteile in einer übersichtlichen Großform angeordnet sind. Die klar unterschiedenen Klangsphären lassen sich auch beim ersten Hören leicht sortieren: das Diskant-Elysium der turtelnden Amanda und Amando, das versoffene Tenorgeplapper des Piet vom Faß, der drittklassige Apokalypse-Groove des Nekrotzar usw.

Das liegt weiters an Simon Rattles kompakt vorantreibendem Zugriff. Die Philharmoniker (mit Noah Bendix-Balgley am 1. Pult) spielen fracklos, nur schwarzes Hemd oder Jackett: Casual Doomsday. Das beschreibt auch den Klang ganz gut, das passt.

pieter_brueghel_the_elder_-_three_soldiersDie perfekt organisierten Klangballungen machen am meisten Freude im letzten Viertel, wo Le Grand Macabre seine größten Orchesterschönheiten entwickelt: beginnend mit Nekrotzars Auftritt im dritten Bild. Da wird Christian Stadelmann, Stimmführer der zweiten Geigen, zu Nekrotzars Hofmusiker, der auf einer grauenhaft verstimmten Fiedel losjatzt. Dann fallen von links oben (über Rang E) ein „mystisches“ Fagott, von rechts eine schrille Klarinette und von weißnichtmehrwo eine schrille Piccoloflöte ein. So eine göttliche Katzenmusik ward selten vernommen. Nicht unerwähnt bleiben darf auch die von Dominik Wollenweber gespielte bedeutendste philharmonische Mundharmonika ever, die man hier im Geist des Macabre bei ihrem schönen bayrischen Namen Foznhobl nennen möchte.

Inszenatorische Wiederaufbereitungsanlage

Weniger Anteil am günstigen Eindruck hat Peter Sellars, der Ligeti schon vor zwanzig Jahren auf die Palme brachte, indem er den Macabre in Salzburg als Tschernobyl-Drama inszenierte. Jetzt ist Ligeti tot, aber der Atommüll ist wieder da, er steht links vor Celesta und Cembalo und rechts hinter den Kontrabässen. Es gibt drei Flatscreens, auf denen erst für den Nuclear Energy Summit London-Berlin 2017 geworben wird und später wechselnde Bilder zu sehen sind, Blumen (mutmaßlich verstrahlt), AKWs mit grasenden Schafen und Kuh-Popos, skrupellose Anzugträger. Wenn Nekrotzar das pale horse der Apokalypse ankündigt, hüpft ein Schimmel durchs Bild. Man ignoriert das Bildgeklimper bald. Die Liebes- und Hass-Paare sitzen in weißen Kitteln an Labortischen mit Laptops, aber dass der Mensch nie so einsam ist wie im Angesicht der Webcam-Erotik, wussten wir vorher schon.

pieter_bruegel_the_elder_-_the_cripples_-_wga3518Dafür, dass man immer Ligetis absurde Komik lobt, wird auch verdammt wenig gelacht. Nur wenn die Sänger sich bewegen, sieht man an der abwechslungsreichen Personenführung, wie gut Sellars sein kann. Trotzdem einige Buhs für seine inszenatorische Wiederaufbereitungsanlage.

Ligeti schwebten ja automatisch-verfremdete Sänger vor, puppenhaft stilisierte Emotionen, deep frozen. Warum nicht mal eine Aufführung mit Puppen, vielleicht wär das was.

Koloraturen und Rülpser

Das Problem könnte auch noch woanders liegen: Gut informierte Kreise berichten dem Konzertgänger in der Pause, Ligeti habe ihnen persönlich ins Gesicht darauf bestanden, dass Le Grand Macabre immer in der Landessprache aufgeführt werden müsse. Als avantgalyptisches Volkstheater sozusagen. Hier wird Englisch gesungen, und die Übertitel-Leserei schafft natürlich Ablenkung und Distanz.

Den hervorragenden Sängern gelingt es aber, die Kluft zu schließen. Anna Prohaska und Ronnita Miller als sich hin und weg liebende Amanda und Amando (in der Erstfassung noch Clitoria und Spermando) sind ein absolutes Traumpaar. Auch optisch, hager erotisch die eine, überwältigend weiblich die andere. Und Koloraturen haben die beiden, die sind nicht jugendfrei. Welche himmlischen Wendungen und Kurven, möchte man da mit Piet vom (Atom-)Fass ausrufen, den Peter Hoare großartig verkörpert: in präzise artikulierter Besoffenheit, auch darstellerisch überragend, jeder Rülpser ein Ereignis.

1200px-pieter_bruegel_the_elder_-_the_parable_of_the_blind_leading_the_blind_-_wga3511Der Bassbariton Pavlo Hunka als Nekrotzar mag nicht der Donnerhall in Person sein, aber er ist ein herrlich abgeranzter Untergangs-Populist mit viel zu breiter Kassenmodellbrille, der es derzeit in jedem europäischen Land dem zu kurz gekommenen Wahlbürger zu besorgen wüsste. Allein wie er im ersten Akt das Wort DEATH auskotzt, ist fucking-spitfire-großartig. Great leader!

Auch die anderen Sänger überzeugen: Der Countertenor Anthony Roth Costanzo als kunstvoll debiler Fürst Go-Go, Audrey Luna als hypertirilierender Geheimdienstchef Gepopo und als Schlampe Venus hoch oben in D SONDERPLÄTZE, Heidi Melton und Frode Olsen als Szenen-einer-ganz-schlechten-BDSM-Ehe-Paar Mescalina/Astradamors und die zankenden Minister Joshua Bloom und Peter Tantsits. Und der von Gijs Leenaars geleitete Rundfunkchor Berlin ist eh eine Bank; im dritten Bild entwickelt der Chor eine archaische Wucht, das ist halb Orff, halb Xenakis.

Doch die Aporkalüpse bleibt aus. Fake News. Not fair. Sad. Genießen wir das Leben, zum Ärger Nekrotzars.

Weitere Kritiken: Musik heute  /  Tagesspiegel  /  Kulturradio (mit Lob für Sellars!). Zur gleich besetzten Aufführung mit dem LSO: The Guardian

Zum Konzert  /  Mehr über den Autor  /  Zum Anfang des Blogs

4 Gedanken zu „17.2.2017 – Aporkalüptisch: Simon Rattle & Berliner Philharmoniker spielen Ligetis „Le Grand Macabre“

  1. Na ja schön??? Ja, aber….. Eine Butterfly die makellos sang, jeden Ton traf einfach wunderbar anzuhören war, aber mich völlig kalt liess, was mir, da nahe am Wasser bei Musik gebaut, selten passierte. Was mich sehr berührte und einfach Klasse war, war das Dirigat von Yves Abel, so schade, das der nur noch so selten hier zu hören ist. Beim Summchor und den reinen Orchesterstellen, bekam ich dann doch Gänsehaut

  2. Grins, soooooooo habe ich das nicht gemeint, fiel mir erst ein als ich die Bemerkung abgeschickt hatte. Danke, ja die Hui He soll großartig sein, Freunde waren am Montag drin.
    Ach, Ligeti ist doch nicht so schwer, so kann ich mich irren

  3. war ja schwere Kost. Finde die Bezeichnung für Fr. Miller herrlich, liebe sie über alle Maßen. Ist immer ein Genuss, ihr zuzuhören. Tja ich habs leichter heute Abend, nach rund 10 Jahren Abstinenz mal wieder ne Butterfly

Schreibe einen Kommentar