16.2.2017 – Sterbensfröhlich: Bach-Kantaten mit Freiburger Barockorchester und Matthias Goerne

058_presentation_fraangelica1Bei einer guten Bach-Aufführung spürt man oft, wie viel Lebenszeit man sonst sinnlos verplempert. Und dann gibt es Bach-Aufführungen, die so gut sind, dass sie all die verplemperte Zeit wieder ausgleichen. Dazu gehört das Bachprogramm, mit dem das Freiburger Barockorchester im Kammermusiksaal auftritt.

Wegen oder trotz Matthias Goerne? Dieser Wotan, Wozzeck, Winterreisende fällt einem nicht als erster ein, wenn man sich einen Bachsänger vorstellt. Nun stellen ja die Kantaten Ich will den Kreuzstab gerne tragen und Ich habe genug dem heutigen Hörer, selbst dem gläubigen, Unerhörtes vor: nicht nur Trost angesichts des unausweichlichen Todes zu verspüren, sondern Freude.

Meinrad Walter betont jedoch in seinem (fast zu) gelehrten Einführungstext die psychologisch-geistliche Dramatik der Kantaten, die nur im Mitgehen des gesamten Werkes begriffen werden können. Reiße man die Schluss-Aria Ich freue mich auf meinen Tod aus ihrem Zusammenhang, begreife man nichts.

Nicht schlecht also, von einem so inbrünstig und dramatisch mit- und vorangehenden Temperament wie Goerne durch diese unerhörten Kantaten geführt zu werden. Er singt nicht als gelehrter Affektedarsteller, sondern als empfindender Mensch, selbst in der ironischen Distanz (etwa in der affektierten Wiedergabe des Verses da prang ich gezieret mit himmlischen Kronen in der Kantate Der Friede sei mit dir BWV 158). Einige Barockprofis im Publikum sind sehr reserviert, auch die Nachbarinnen des Konzertgängers tuscheln zunächst verstört und gehen dann zur Pause.

Tatsächlich hat das Konzert am Anfang fast Experimentalcharakter. Man versteht bei Goerne kaum ein Wort – zumal zu Beginn der ersten Kantate Ich will den Kreuzstab gerne tragen BWV 56. Was für ein Kontrast zur gewohnt klaren Artikulation der Freiburger Instrumentalisten! Dass es in der deutschen Sprache Konsonanten gibt, ahnt man in der ersten Aria kaum.

symeon_home-15w9wc918vuowg4c8ko4gkg0g-6ylu316ao144c8c4woosog48w-thAber welche Schönheit, welche Glut haben Goernes Vokale! Saalfüllende Kraft und saalwärmender Wohlklang verbinden sich auf ganz besondere Weise in diesem sehr bassigen Bariton. Für ein A von Goerne gäbe man die Welt dahin, schöner sind nur die U’s. So bringt Goerne Worte zum Leuchten und Bedeuten, viel tiefer, als ausbuchstabierte Phoneme es könnten: Barmherzigkeit und Himmelreich etwa im Recitativo Mein Wandel auf der Welt. Dazu kommt Goernes ausladende und expressive Gestik. Man begreift alles, wenn man den schweren Leib des Sängers zu den Triolen des Verses Da wischt mir die Tränen mein Heiland selbst ab wogen und wellen sieht. Goernes Hände zeichnen, seine Füße tänzeln so freudig melismatisch wie der Diphtong in weichen in der Aria Endlich, endlich wird mein Joch.

simeonUnd welche Fähigkeit, Präsenz zu erschaffen: vollkommen die Illusion, in Der Friede sei mit dir von Jesus direkt angesprochen zu werden. Oder im eröffnenden Ich habe genug und im abschließenden Ich freue mich auf meinen Tod der Kantate Ich habe genug BWV 82 den Patron dieses Abends zu hören, den sterbensbereiten Heiligen Simeon (Lukas 2, 25ff.).

Für die drei Mitsänger in den Chorälen ist Goerne natürlich eine Herausforderung. Im Choral Komm, o Tod, du Schlafes Bruder hört man vier Einzelstimmen, mehr oder weniger, aber keinen vierstimmigen Chor. Hier ist das rechte Osterlamm scheint ausproportionierter, wobei die beiden Mittelstimmen es schwer haben, sich gegen Goernes Bassbariton und den Sopran von Christina Roterberg zu behaupten. Deren solistische Gegenstimme in Welt, ade, ich bin dein müde ist ein herrlicher Kontrast zu Goernes Glut, etwa im statuenhaften Klang des Verses Nichts denn lauter Eitelkeit.

Vorbereitet werden die drei Kantaten durch Instrumentalwerke von Bach, die in diesem Kontext wie Bilder aus der ersehnten anderen Welt klingen. Wie die aussieht, meint man spätestens im Largo des Doppelkonzerts d-Moll BWV 1060 für Oboe und Violine (rekonstruiert nach dem Cembalokonzert) zu wissen. Die Geige des Konzertmeisters Gottfried von der Goltz und die Oboe von Katharina Arfken konzertieren so hochartikuliert und tiefenentspannt, wie das ganze FBO auch heute Abend klingt. Auch in den Kantaten treten beide Instrumente wechselweise solistisch hervor, so dass man Arfken als den eigentlichen Star bezeichnen will, die Oboe als Heiligen Geist dieses Abends.

Sehr schön: nach dem Konzert gibt es Champagner statt Blumen. Recht so, zur Todessehnsucht gehört Lebensdurst, das haben wir gehört! Und die Musiker müssen sich stärken, das Programm zieht quer durch Europa: gestern Berlin, heute Istanbul, übermorgen Moskau. Was für ein Kreuzstab!

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