14.10.2016 – Frühunvollendet: Ein Abend für Lili Boulanger beim RIAS Kammerchor

nadia_et_lili_boulanger_1913

Nadia und Lili Boulanger

Eine  Rarität, mit der man keine Zuhörerfluten hinter dem Ofen hervorlockt, doch gerade deshalb um so wertvoller: Während Tugan Sokhiev und die Berliner Philharmoniker im ausverkauften Großen Saal kalorienreiche russische Kost auftischen, serviert der RIAS Kammerchor im Kammermusiksaal erlesene ätherische Klangdüfte, Chorwerke der fast vergessenen Lili Boulanger.

Vorzeitig ist kein Ausdruck für Lili Boulangers frühen Tod, mit ihr verglichen wurden Pergolesi, Mozart und Schubert steinalt: Sie starb 1918 im Alter von nur 24 Jahren. Ihre große Schwester Nadia hängte auch aus Ehrfurcht vor dem Werk ihrer unerreichbar talentierten Schwester das Komponieren an den Nagel und wurde eine der bedeutendsten Musikpädagoginnen des 20. Jahrhunderts. Sie berichtete von den Worten ihrer sterbenskranken Schwester während einer häuslichen Probe: Es ist komisch, jedermann wird diese Musik hören außer mir.

Jedes der sieben aufgeführten Werke von Lili Boulanger für Chor und Klavier ist ein Juwel. In La Source (Die Quelle) funkelt, flirrt, perlt, spritzt das Klavier, darüber pendelt der Gesang des Chors in langen Tönen, eine geradezu meditative Wirkung. Während in den lili_boulanger_1betörenden Les sirènes (wo man allerdings die Raumwirkung durch einen zweiten, unsichtbaren Chor hinter der Bühne vermisst) nur vier männliche die weiblichen Stimmen grundieren, ist das Unwetter in Pendant la tempête exklusiv männlich besetzt. Ergreifend, wie nach einer überraschenden Pause der Männerchor zu einem einstimmigen Bittgesang ansetzt.

Nach dem schmalzig-schönen Sous-bois ersteht in Renouveau aus einer simplen Tonleiterfigur ein triumphales Bild von der Macht des Frühlings: weniger ein Stimmungsbild als komponierte Naturphilosophie und schmerzliches persönliches Bekenntnis. Auch in Soir sour la plaine geht die intensive Abendstimmung weit übers wohlig Atmosphärische hinaus. Geradezu erschütternd wirkt die Kraft und Gewalt, die Boulanger der Hymne au soleil einschreibt, hart, strahlend, grell ist der Ursprung allen Lebens.

lili_boulangerHier wünschte man sich allerdings den Klavierpart ähnlich kraftvoll, nicht nur begleitend, wie man sich auch in Pendant la tempête das Klavier stürmischer vorstellen könnte. Eine gewisse Korrepetitorenhaftigkeit ist in Phillip Molls Spiel unüberhörbar, was freilich auch bedeutet: sensibelste, sängerfreundlichste Akkuratesse. In Lili Boulangers Klavierstücken D’un vieux jardin und D’un jardin clair kommt dieser Feinsinn dann auch rein pianistisch aufs Schönste zur Geltung.

Der RIAS Kammerchor singt unter der Leitung von Michael Alber voller Wärme, aber ohne Weichzeichnerei, die bei dieser atmosphärischen, teils hypnotischen Musik eine Versuchung sein könnte: luftig, nicht neblig, ein Muster an clarté. Die abwechselnd hervortretenden Solisten überzeugen durchweg. Keiner überstrahlt den Chor stimmlich (wie es bei externen Star-Solisten geschehen kann), aber die erfreulichen Homogenität schließt Individualität nicht aus. So bewegt etwa Anja Petersen durch himmelwärts strebende Intensität, während Andrew Redmond im Mittelteil von Max Regers Einsiedler mit stellenweise fast brüchiger Stimme einen unbedingt vorteilhaften persönlichen Ton einbringt.

Reger? Gab es denn noch etwas außer Lili Boulanger? Ach ja, fünf Männer. Wenn Max Reger mit französischer Musik kombiniert wird, ist das dem Konzertgänger als Deutschem immer etwas peinlich; und in der Kombination mit Lili Boulanger auch als Mann. Der erste Teil des Einsiedlers (in der überwältigend schlichten Vertonung Robert Schumanns jüngst von Christian Gerhaher zu hören) schwillt unangenehm wuchtig an, während die abschließende x-fache Wiederholung der Worte O Trost der Welt ebenjenen Trost immer unglaubhafter macht. Gerade diese unbeabsichtigte Wirkung ist allerdings erschütternd.

Neben Arnold Schönbergs Schein uns, du liebe Sonne (für die es einen Rüffel von Adorno wegen Tonalität setzte) und Paul Hindemiths Six Chansons nach französischen Gedichten von Rilke gab es mit Frederick Delius‘ Two Songs to be sung of a Summer Night on the Water eine kuriose Vokalisenmusik, deren Summtöne durch fröhliches Lalala gutgelaunt kontrapunktiert werden. Und noch einen echten Knaller: Éjszaka / Reggel von György Ligeti, eine bizarr knappe Nacht-Tag-Musik von 1955 mit Clustern und Kikeriki.

Auf dem Heimweg stellt der Konzertgänger sich vor, Lili Boulanger wäre 97 Jahre alt geworden wie Henri Dutilleux, sie hätte bis 1990 gelebt und komponiert. Da verdrückt er eine Träne. Und wünscht sich, ihr herzzerreißend leichter Satz möge in Erfüllung gehen: Es ist komisch, jedermann wird diese Musik hören außer mir.

Weitere Kritik im Tagesspiegel

Zum Konzert / Zum Anfang des Blogs

3 Gedanken zu „14.10.2016 – Frühunvollendet: Ein Abend für Lili Boulanger beim RIAS Kammerchor

  1. Ich war bei der Probe zu diesem Konzert (zum Konzert selbst konnte ich leider nicht kommen). Es wurden ausschließlich einige der Stücke der mir bis dato unbekannten Lili Boulanger geprobt, und es war überaus spannend zu hören, wie der Chor die Anweisungen von Michael Alber umsetzte. Wie immer: der RIAS Kammerchor singt grandios!

  2. Immer wieder erstaunlich, wie geschmackssicher Sie die Konzerte auswählen, die Sie besuchen.
    Ja, im Allgemeinen ist die genaue Kenntnis von Lili Boulanger ja so groß wie die vom Ungeheuer von Loch Ness. Naja, wer mit 5 schon von Fauré begleitet wird, aus dem muss ja was werden. Reger war ja nicht schlecht (seine Zeit kommt wieder, ich weiß es), aber die Konkurrenz ist groß.

Schreibe einen Kommentar