Explosivste Begräbnisparty seit langem! Denn zum Gastspiel im Konzerthaus erscheinen die Herren der Permer Wundertruppe MusicAeterna im Funeral Look (schwarzer Anzug, schwarze Krawatte). Die Damen ebenfalls in Schwarz, aber einige sowas von schulterfrei; besonders der Anblick einer rothaarigen Bratschistin stellt die Konzentrationsfähigkeit des Konzertgängers auf eine harte Probe, aber eher wird die Mondsichel auf die Erde fallen, als dass er sich über zu leichtbekleidete Frauen beklagt.
Den Dirigenten und Oberzampano Teodor Currentzis, der mit zurückgegelter Geniemähne erscheint, hat unser klügster Musikkritiker Jan Brachmann zwar vor ein paar Monaten zum Scharlatan erklärt, zu einem Magier der Leere. Das Konzerthaus ist trotzdem bis auf den letzten Platz gefüllt, und sogar darüber hinaus, der Mittelgang im Parkett ist mit Extrastühlen zugebaut. (Höchstens ein dritter Rang ließe sich oben noch einbauen, da könnte man auch eine weitere Reihe Komponistenbüsten aufstellen; Wolfgang Rihm würde sich als Büste im Konzerthausstil gut machen.)
Doch Currentzis‘ Gel hält nicht lange, denn sein Dirigierstil sieht aus, als ließe Sasha Waltz Murnaus Nosferatu vertanzen. Und wenn er ein Scharlatan sein sollte, dann ein verdammt gerissener. Denn Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie g-Moll KV 183 (die „kleine“ g-Moll-Sinfonie von 1773) klingt auch mit geschlossenen Augen gut. Man merkt zwar, dass die regelmäßig im Konzerthaus spielende Akademie für Alte Musik akkurater, präziser, auch klangschöner ist. Aber es ist doch alles sehr packend, der Kopfsatz mit seinen heftigen Kontrasten von Zucken und Säuseln oder das hypergravitätische Menuett.
Mozarts Violinkonzert D-Dur KV 218 setzt noch eins drauf, dank der Solistin Patricia Kopatchinskaja, im selben zerrissenen Frack wie neulich bei den Philharmonikern. Ihretwegen muss das Orchester, das in der Sinfonie noch stand, nun sitzen, aber der erste Geiger Afanasy Chupin hüpft immerzu hoch, als glühte sein Stuhl. Kopatchinskajas erster Einsatz ist dreist quietschig, die Intonation teilweise grauenhaft. Später bestürzt, erheitert, empört sie mit manchen jaulenden Übergängen. Als Kadenz spielt sie etwas, das György Ligeti nach einer durchzechten Nacht morgens um vier am Dorfbrunnen komponiert haben dürfte. Kurzum: Großartig.
Denn das alles sind Axthiebe, mit denen Kopatchinskaja den Zuckerpanzer von der Wiener Klassik kloppt. (Man mag einwenden, dass das auch anders geht; egal.) Wie anrührend zerbrechlich ihr Ton auch klingen kann, beweist das Andante cantabile. Es ist Mozart, weil es Witz, Gesang und Herz hat.
Und in der Zugabe von George Enescu zeigt Kopatchinskaja erst recht, wie virtuos sie 750 Arten des Schrubbens, Zirpens, Singens mit der Geige beherrscht. Allein der gallige Blick, den sie einem In-den-Schluss-Huster versetzt, ist das Eintrittsgeld wert.
Der Trauerfall, der den funeralen Dresscode vorgibt, ereignet sich natürlich in Ludwig van Beethovens 3. Sinfonie Es-Dur op. 55, der Eroica. Der Konzertgänger fürchtet, dass sich die Geduld mit dem expressiven Bumpern von MusicAeterna im Lauf der kommenden 50 Minuten erschöpfen könnte. Das Orchester darf wieder stehen. Die Geigen sind „amerikanisch“ aufgestellt, das heißt erste und zweite Violinen nebeneinander, was nicht nur angesichts der historischen Instrumente überrascht, sondern auch weil es Currentzis‘ unbedingter Kontrastdynamik zu widersprechen scheint. Da bekommt das sinfonische Schiff doch Schlagsaite! Am letzten Pult der ersten Geigen fiedelt Kopatchinskaja mit.
Die beiden Auftakt-Akkorde sind natürlich wie für Currentzis gemacht, und der pulsierende Drive des Kopfsatzes ist unüberbietbar. Der erste Geiger wird sich nach dem ersten Satz sehr lange das Gesicht trockenwischen. Zwar ist hier jeder Akzent derart explosiv, jede Linie derart angesengt, dass man schon nach der Ökonomie der Intensität fragen kann. Auf dem Höhepunkt der Durchführung ist kaum mehr was zuzulegen, und einige Übergänge wirken paradox spannungsarm.
Aber: Man denkt keine Sekunde daran, wie oft man die Eroica schon gehört hat. Unglaublich mitreißend ist das Finale, trotz einiger Balanceprobleme (die guten Hörner kommen kaum gegen die exaltierten Streicher und den Paukendonner an).
Geradezu krass funktioniert Currentzis‘ Hochtourigkeitsprinzip im zweiten Satz, der nicht nur wegen des Dresscodes das Zentrum der Sinfonie und des ganzen Konzerts ist. Diesen Trauermarsch trottet niemand mit, jeder Schritt steht unter äußerster Spannung, jeder Paukenschlag ist ein Schuss in die Herzgrube. Wenn die schön fahlen Blüten der Erinnerung sich öffnen, wagt man kaum zu atmen auf diesem letzten Gang. Der Konzertgänger fühlt sich zurückversetzt auf das Begräbnis eines ihm sehr lieben Menschen. Heftig. Und als kurz vor Satzschluss im Parkett etwas Metallisches zu Boden fällt, denkt man, eben jetzt gibt wer den Löffel ab.
Was Currentzis schließlich undefinierbar brummend als Zugabe ankündigt, versteht wohl auch in der vordersten Reihe niemand. Was man dann aber bis in den hintersten Winkel hört, ist eine hochexplosive Figaro-Ouvertüre.
Viele Skeptiker (Musik heute, Mottenpost), aber der Tagesspiegel fand’s gut.
Doch, ich fand Currentzis immer sehr gut. Ich wünschte, er dirigierte an der Staatsoper.
Ja, das wär was. Läuft ja gerade ein gelehrter Kritiker-Shitstorm gegen Currentzis, siehe FAZ, NZZ. Auf CD wär Currentzis mir allerdings auch nix, glaub ich. Aber live unbedingt.
Habe gestern mal in den Don Giovanni mit seinem Orchester reingehört. Das ist schon sehr demonstrativ in den Gesten. In Salzburg macht er diesen Sommer Tito.
Probieren Sie ihn doch einfach auf CD. Ich empfehle vor allem Sacre, Cosi fan tutte. Und meine Lieblings DVD ist Purcell’s Indian Queen von der Production mit Sellars am teatro real. Freu mich schon auf den Tito in Salzburg.
Ihren Bericht habe ich übrigens mit Vergnügen gelesen. An der Stelle mit dem Löffel ist aus dem Schmunzeln Gelächter geworden 😉
Danke für die Tipps (werde ich mal machen) und das Lob!
Currentzis an der Staatsoper – warum nicht? Aber auf der Bühne und in einer opera buffa, nicht am Dirigentenpult!
Ja, das ist doch ein Vorschlag zur Güte … fände ich auch sehr reizvoll.
Neinnein, eine Tosca mit Currentzis fände ich sehr spannend.
Es ist schon auffällig, wie wichtig dem Jahrmarktsbudenpaar Currentzis/Kopatschinskaja Äußerlichkeiten sind: Frisur, Kleidung, exaltiertes Gestikulieren und – ach ja, wie bescheiden! – der Platz am letzten Pult.Und das Publikum fällt darauf herein! Aber der Schlusshuster wird bestraft: Da soll dann der Tingeltangel plötzlich Hochamt sein.
Wir haben ja diese Diskussion bereits unter diesem Artikel geführt. Ich halte es nicht für richtig, Musikern künstlerisches Wollen und Leidenschaft für die Musik abzusprechen (Jahrmarktsbudenpaar, Tingeltangel), auch wenn man ihr Herangehen kritisiert oder völlig ablehnt.
Na denn bin ih ja beruhigt und kann den Tag geniessen :–))
Tststststs, ich bin verwundert, war die Gattin des Konzertgängers nicht dabei oder der hoffnungsvolle Nachwuchs???
Der kleinste hoffnungsvolle Nachwuchs ist derzeit noch so anhänglich, da gehen sich gemeinsame Konzertbesuche vorübergehend nicht aus. Aber eher wird die Venus vom Firmament ins Meer stürzen, als dass die Treue des Konzertgängers zur Gattin wankt, wohin sein unsteter Blick auch schweifen mag.