12.9.2016 – Bered(e)t: Hinrich Alpers spielt 2x Ravels „Gaspard de la Nuit“

Den alten kantischen Widerstreit zwischen Pflicht (Pierre-Laurent Aimard und Tamara Stefanovich spielen alles für Klavier von Pierre Boulez) und Neigung (zweimal Gaspard de la nuit im Konzerthaus) löst der Konzertgänger, indem er stracks der Neigung folgt.

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Denn Maurice Ravels Gaspard de la nuit, wiewohl häufiger als Boulez auf dem Programm, kann man gar nicht oft genug hören. Zumal wenn ein Pianist wie der 1981 geborene Hinrich Alpers spielt, der das Gesamtwerk von Ravel aufgenommen und jüngst in Bonn (offenbar glorios) sämtliche Beethovensonaten aufgeführt hat, aber in seiner Wahlheimat Berlin noch nicht so bekannt ist wie im Flötenmekka Uelzen. Hierzustadt war er zuletzt im schönen Weddinger Pianosalon Christophori zu hören; nun in der verdienstlichen Reihe 2 x hören im Konzerthaus.

Nicht nur die Neigung zum Beethovenzyklus verbindet Alpers mit Buchbinder, sondern auch gewisse physische Eigenheiten (auch wenn der Konzertgänger nie das Wort Wurstfinger benutzen würde). Aber in Sachen Ravel kann Buchbinder Alpers gewiss nicht das perlende, prickelnde, schäumende Wasser reichen: Wolkenlos, unverschleiert, auch im Aufbrausen hell und ironisch klingt der 1. Satz Ondine, die Wassernixe. Das ostinate b, das Le gibet, den Galgen, durchzieht, tönt Alpers nicht in den von Henri Gil-Marchex geforderten 27 Anschlagsarten ab, sondern in mindestens 72. Rollend und grollend Scarbo, diese bizarre Mischung aus Hyperetüde und Höllentrip.

Zwischen seinen beiden Aufführungen des Gaspard plaudert Alpers über das Werk mit Arno Lücker, der sich zwar gelegentlich um Kopf und Kragen redet, aber stets die Kurve kratzt, bevor es ins Unverbindliche abschweift. Wobei der nicht nur am Klavier beredte, sachkundige, witzige Alpers ein Glücksfall für diese Art von Veranstaltung ist.

So erfährt der Hörer Wissenswertes über die Herkünfte großer französischer Komponisten (etwa Rameaus aus Dijon, dem „Bautzen Frankreichs“) und über den von Ravels Vater Joseph konstruierten Ravel-Motor, ehe man aufschlussreiche Einsicht in die Noten nimmt. Nach dem Vorbild der unruhigen Diskantbegleitung, die Ondine eröffnet, verbessern Alpers und Lücker gar einen langweiligen Chopin. Und Alpers gibt interessante Einblicke in die Ganztonleiter als Ausdruck des Kontrollverlusts bei Ravel und den erotischen Clash zweier Ganztonleitern auf dem Höhepunkt des Satzes.

Weit über den Gaspard hinaus führt die Gegenüberstellung des repetierten b in Le Gibet mit Bernd Alois Zimmermanns atemraubenden, vom d durchzogenen Meisterwerk Stille und Umkehr (1970):

Allein die ausufernde Betrachtung der Ravel inspirierenden Prosagedichte von Aloysius Bertrand erweist sich als wenig ergiebig, zumal Alpers und Lücker weder auf die (französische) Sprachmelodie noch auf die (ungebundene) Form eingehen. Mag sein, dass auch Ravel dazu keinen Bezug hatte; aber dann waren diese Gedichte nur ein Sprungbrett für seine Inspiration und gehen uns heute, zumindest als Gaspard-Hörer, nicht mehr viel an. Lieber hätte man das schönste aller Bücher über Ravel erwähnen sollen, den von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übersetzten Roman von Jean Echenoz.

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