12.3.2017 – Fremd: Schuberts „Winterreise“ mit Barenboim & Gerhaher im Boulezsaal

Zum Raum wird hier die Zeit: Neun Tage dauert die Eröffnungswoche des Pierre-Boulez-Saals. Am achten Tag der Woche zieht Franz Schuberts Winterreise mit Christian Gerhaher und Daniel Barenboim fremd ein, fremd zieht sie wieder aus. Durchaus gewöhnungsbedürftig in der überaus klaren Akustik und schnörkellosen Architektur, die bei allem geschwungenen Gehry-Genios etwas an einen Plenarsaal mit BVG-Sitzen erinnert. Aber wäre es besser, eine Winterreise Winter_Landscape_by_Caspar_David_Friedrichkönnte sich in einem Saal bequem einheimeln? Je fremder, desto besser.

Der Konzertgänger besucht die zweite Aufführung, am Sonntagvormittag: Auch diese Zeit ist für eine Winterreise befremdlich, wie die Frühlingssonne vor der Tür. Aber wenn man zuvor seinen Nachwuchs frühmorgens in die tiefsten Felsengründe gebracht hat, nämlich zu einem Fußballturnier in eine unwirtbare Weddinger Turnhalle, geht’s schon. Da ist man nicht übel eingestimmt auf alle Trostlosigkeit der Welt.

Der Saal, ständisch und sozialistisch zugleich

Tatsächlich bleiben der Boulezsaal und das Genre „Lied“ einander etwas fremd. Nicht wegen der Atmosphäre, sondern weil ein 360-Grad-Saal nun mal für Gesang problematisch ist, selbst wenn es der Boulezsaal ist. Auch beim besten Sänger kommt der Ton ja nicht aus dem Hinterkopf, auch der medizinisch versierte Gerhaher kann seinen Schädel nicht ganz aufmachen, wie Barenboim es mit seinem Flügel tut. Der ist nämlich entdeckelt, was allen zugute kommt, die sonst elend hinter der aufragenden Schallwand säßen.

Aber der Klang des Klaviers verschwimmt dadurch ein wenig. Überspitzt könnte man also sagen: Gesanglich herrscht hier eine krasse Ständegesellschaft, pianistisch dagegen eine egalitäre Demokratie, aber als Gleichheit im sozialistischen Sinn, d.h. alle Hörer sind gleich arm dran. Es wäre überlegenswert, den Saal (wie sein modulares Prinzip ja erlaubt) beim nächsten Liedrezital anders zu konfigurieren. Frontal, auch wenn das außer Mode ist.

Der Pianist als Nebensonne

Fremd, fürchtet man, könnten sich auch die der Sänger Christian Gerhaher und der Pianist Daniel Barenboim bleiben. Aber es ist reizvoll, Gerhaher mal mit einem anderen Begleiter als seinem langjährigen Partner Gerold Huber zu erleben. Und zur Mesalliance wird die Begegnung der gegensätzlichen musikalischen Temperamente Gerhaher und Barenboim keineswegs.

Aber ist Barenboim überhaupt ein „Begleiter“? Als charismatischer Pianist „begleitet“ er eher im Sinn sensiblen Hinhörens, als dass er sich dienend unterordnete. Mit breiten Richard_Freiherr_von_Drasche-Wartinberg_Im_tiefen_WinterTempi, starken Akzenten, viel Rubato wird das Klavier teilweise zum unabhängigen Protagonisten, zu einer Art Nebensonne am Schuberthimmel. Die spendet viel Licht, wirft aber auch einige Schatten.

Das Licht strahlt in ergreifend singenden Echos, herrlich leuchtenden Terzen in den Dur-Passagen, überhaupt Klangschönheit, Gefühlswärme und auch Risikofreude. Wie zerborsten scheppert Die Wetterfahne im Wind! Wie berückend öffnet sich der Klavierton auf das Wort Sehnen im Lied Wasserflut, wie eindringlich pochen die Bässe des Herzens unter der Eisschicht Auf dem Flusse! Und wie erweisen die verstreuten, gegen jedes Metrum akzentuierten Staccato-Achtel in Letzte Hoffnung dem Namenspatron des Saales Pierre Boulez doch alle Ehre!

Als Schattenseiten sind einige Ungenauigkeiten und kleine Schludereien gar nicht so wichtig, wenn auch unüberhörbar. Wichtiger ist, dass Barenboims musikalisches Gefühl manchmal Winter_landscape_Paul_Gauguinzum Gehalt der Lieder quer zu stehen scheint. Am deutlichsten merkt man das im letzten Lied, dem Leiermann. Da leiert Barenboim nicht im geringsten, sondern erzeugt mit Pedalen und Rubati Klänge wie funkelnden Sternenstaub. Wunderschön! Aber auch sinnvoll? Von unerbittlicher Monotonie (Susanne Ziese im Programmheft) keine Spur, eher Entrückung.

Ian Bostridge hat allerdings in seinem äußerst lesenswerten Buch über Schuberts Winterreise bezweifelt, dass das letzte Lied wirklich eine Todesvision sein muss. So gehört, gibt einem Barenboims zunächst verfehlt scheinende Interpretation Stoff zum Nachdenken. Während Bostridge bei seinem Rezital mit dem Pianisten Julius Drake (der auf andere Art sehr profiliert spielte) vor einem Jahr im Kammermusiksaal am Schluss aufschrie, steht bei Barenboim schimmernde Hoffnung, bei Gerhaher vieldeutiges Raunen, nicht unbedingt Resignation.

Spontaneität und Fatalität

Christian Gerhaher ist als Sänger natürlich das absolute Gegenteil des exaltierten, teils bizarren Bostridge. Wie bewunderungswürdig Gerhahers Artikulation und Klangschönheit sind, muss man nicht eigens betonen – ein Ideal. Gerade indem er Extreme darstellt, statt sie zu WLANL_-_jankie_-_Ondergesneeuwd_veld_met_een_eg_(naar_Millet),_Vincent_van_Gogh_(1889)durchleben, erzielt er emotionalen Überschuss und überschießende Emotion. Wenn Gerhahers Stimme beim Schlussvers des ersten Liedes An dich hab ich gedacht unsagbar fahl wird, ist ja schon alles aus. Nur gelegentlich denkt der Konzertgänger, dass bei Gerhaher alles so ausgefeilt ist, jede Nuancierung so durchdacht, dass diese Winterreise ihr Fremdsein zu verlieren droht. Die Spontaneität der Fatalität sozusagen.

Aber das ist Skepsis gegenüber höchstem Niveau und eine Frage, die dem Konzertgänger manchmal angeohrs unvergleichlicher Brillanz in den Sinn kommt.

In diesem Rezital geschieht dann tatsächlich etwas völlig Unvorhergesehenes, das sich aufs Hören auswirkt: Im sechsten Lied, der Wasserflut (direkt nach dem Lindenbaum), bricht eine ältere Dame in der ersten Reihe zusammen. Das Rezital muss unterbrochen, die Dame medizinisch versorgt werden. Auf die Gefahr hin, zynisch zu wirken: Dieser Vorfall steigert die Intensität des wiedereinsetzenden Konzerts, schärft das Bewusstsein dafür, dass es hier um alles geht, um Leben und Tod. (Vor drei oder vier Jahren brach Gerhaher selbst bei einer Winterreise im Kammermusiksaal zusammen.)

Das Wichtigste zuletzt: Alles Gute der Dame, die man zum Glück den Saal später schon wieder auf eigenen Beinen verlassen sieht.

Weitere Kritiken: Kulturradio (begeistert), Tagesspiegel (skeptisch)

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9 Gedanken zu „12.3.2017 – Fremd: Schuberts „Winterreise“ mit Barenboim & Gerhaher im Boulezsaal

  1. Danke für diese tolle Kritik. Ich war in beiden Konzerten, einmal im 2. Rang hinter dem Sänger und das zweite Mal optimal in Block A.
    Sie haben so Recht mit der falschen Ausrichtung der Künstler. Das hatte mich sehr enttäuscht. Auch ich war skeptisch bezüglich des Begleiterwechsels. Aber auch hier stimme ich mit Ihnen überein. Gerade, dass diese beiden sich eben nicht so gut kennen wir Huber und Gerhaher, brachte der Interpretation eine neue künstlerische Note. Barenboim inspirierte Gerhaher mit seiner unglaublichen Musikalität.
    Tja, und der Sänger: Für mich ein Sängergott. Vielleicht gar nicht mal mit der eindrucksvolksten Stimme gesegnet, aber diese Intelligenz in der Interpretation, diese Uneitelkeit, diese Bescheidenheit, diese Stimmführung. Es ist einfach alles gut bei Gerhaher.

  2. Tja, aber im Kammermusiksaal, weiss ich was ich bekomme, wenn ich meine Karte kaufe! Bei Boulez‘ darf ich beim Ausprobieren für teuer Geld live dabei sein. Testpublikum gehört bezahlt!

  3. Ohne Deckel wirkte das Klavier als undurchdringliche Wand zwischen Gerhaher und uns, die wir frontal vor Gerhaher sassen! Bescheuert.
    Deckel zu wäre bei Barenboim immer noch laut genug gewesen…

    • Das ist dann wieder das Thema Rundsaal! Im Kammermusiksaal hätte man auf den billigen Plätzen hinter der Bühne das Klavier (mit Deckel als Wand) PLUS den Sänger von hinten, Höchststrafe. In Block A dafür den vollen Genuss. Hier dagegen: Einer hat Gerhaher von hinten, der andere von vorn, aber dafür das Klavier als Wand dazwischen.
      Auf dem Rang war es ausgewogen, ich saß direkt über dem Klavier.

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