11.2.2017 – Ohrend, herzend: Berliner Philharmoniker, Rattle, Kopatchinskaja spielen Ligeti, Rihm, Mahler

mahler_gustav4Diesmal kann kein Nörgler sich beschweren, die Programme der Berliner Philharmoniker wären zu seicht: Hier stellt der großartige, der unsterbliche György Ligeti nicht nur Rihm (und Boulez) in den Schatten, sondern selbst Gustav Mahler, dessen 4. Sinfonie G-Dur nach der Pause natürlich der planmäßige Höhepunkt des Konzerts sein sollte.

Und ist auch keineswegs missglückt. Den ersten Satz gehen die Philharmoniker unter Simon Rattle zwar nicht gerade Bedächtig an, nicht subtil abgründig. Stattdessen heizt der glöckchenklingende Schlitten von Beginn an unter Hochdruck dem Abgrund entgegen. Die gemächliche Bewegung des zweiten Satzes ohne Hast scheint voller sehr giftiger Spitzen, am wärmsten klingt paradoxerweise die um einen Ganzton höhergestimmte Solovioline von Daniel Stabrawa.

Doch der Ansatz kommt der unendlichen Wärme und Weichheit zugute, in der der dritte Satz, Ruhevoll, beginnt und nach der er sich dann immer verzweifelter zurücksehnt. Vier Hörner hoch in die Luft: da betritt Camilla Tilling zum Finale das Podium, wie entrückt, scheinbar mit geschlossenen Augen. Himmlische Freuden verbreitet ihr differenzierter, ausgewogener Sopran. Alles Paradiesische zeichnet sie ganz deutlich, auch das Kindliche, Unheimliche, Grausame dieser unbehaglichen Erlösungsvision, in der die Metzger umgehen und deren Schluss-Ekstase, morendo, so furchtbar nach Sterben klingt.

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Mit Wolfgang Rihm begann das Konzert.

Uraufführung mal wieder, wenn auch nur fünf Minuten, man staunt über Rihms Output! Hat er eine Werkstatt wie Rembrandt oder Tizian? Hören wir einen echten Rihm? Gewiss, die Philharmoniker behumpst man nicht. Der Titel Gruß-Moment 2 (in memoriam Pierre Boulez) klingt ein wenig nach dem in der märkischen Gastronomie berühmt-berüchtigten Gruß aus der Küche. Dass das Stück, wie man im Programmheft erfährt, tatsächlich im Rahmen der philharmonischen Tapas-Reihe entstanden ist, treibt die seltsam beliebte kulinarische Metaphorik des Klassikbetriebs doch zu weit. Oder soll man Mahlers Vierte als den von St. Lucas geschlachteten Ochsen betrachten?

Musik mundet nicht, sondern ohrt. Und herzt.

Der Gruß-Moment 2 baut exzellente Klangschichten in Blech und Streichern auf, während das unruhig drängende Englischhorn (Dominik Wollenweber), die Oboe (Christoph Hartmann), Posaune (Olaf Ott), die Flöten einen etwas erwartbaren katastrophischen Höhepunkt ankündigen. Ott wirkt danach unzufrieden, mit sich? Kein Grund dazu. Alle genannten Solisten hätte man übrigens auch bei Mahler hervorheben können.

Solche kurzen Stücke sollte man am besten immer zweimal spielen: um den Lern- und Hörwilligen auf die Sprünge zu helfen und um die Bornierten zu bestrafen.

György Ligetis phänomenales Violinkonzert (1992) würde man erst recht zweimal hören wollen, auch wenn es nicht so kurz ist, sondern etwa eine halbe Stunde dauert. Immerhin ist es laut Patricia Kopatchinskaja das bedeutendste Violinkonzert seit Beethoven. Ein roter Teppich liegt für die Solistin neben dem Dirigentenpult bereit, wenn auch (dit is Berlin) ein ziemlicher Frotteelappen. Fürchtet man, dass die barfuß spielende Geigerin sich erkälten könnte (wie das halbe Publikum)? Wenn es expressiv wird, hüpft sie aber eh vom Teppich runter und schlägt wunderbar mit den Zehen den Takt.

0dd6796f8ccfeb30937409d544e7ba3fDie Solistin genau anzuschauen, ist hier sehr sinnvoll. Weil Kopatchinskaja so engagiert, extrovertiert und extra ver-tiert spielt wie keine Zweite. Und weil ihr Kleid bereits Teil der Interpretation ist: ein Kostüm eher, der Frack des Tramps, an den Schultern eingerissen (jedoch am Riss mit sexy Spitze besetzt). Sehr passend für die Solistin eines solchen spielerischen, kindlichen, existenziellen Violinkonzerts. Einsam wirkt die Geige, auch wenn sie nicht allein ist: Die Welt der Klänge antwortet ja ständig, mal sphärisch, mal schrill. Wunderschön, hochkomisch, aber nie behaglich.

Kein Wunder, denn das Werk mischt Naturtonstimmungen und Mikrotonalität. Eine Geige (Stabrawa) ist einen Tick höher, eine Bratsche (Máté Szűcs?) einen Tick tiefer gestimmt als der Rest des 24köpfigen Ensembles. Als die beiden gemeinsam mit Kopatchinskajas Solovioline einsetzen, klingt das, als entstehe die Musik überhaupt just in diesem Moment. Und mit ihr die Welt. Das ohrt!

Herzende Zentren des Werkes sind der zweite und der vierte Satz. Im zweiten klingt Kopatchinskajas fahl singende Violine wie eine Stimme aus dem 14. oder 15. Jahrhundert, die auch artig kontrapunktiert wird; vier Okarinas werden sich später einschalten, ein ganz bizarrer Klangeindruck. Am Schluss des fünften und letzten Satzes steht dann eine frei zu gestaltende Solokadenz. Kopatchinskaja erfüllt Ligetis Forderung, diese müsse stets hektisch klingen, nicht nur musikalisch virtuos, sondern auch theatralisch: indem sie Simon Rattle vom Dirigentenpodest verscheucht und ihn am Ende mit den Philharmonikern unter allen Stühlen sucht. Rattle indes erscheint links oben beim Schlagwerk – zum Abschlagen.

Herrliche Zugabe: eine Ballade von Ligeti, die Kopatchinskaja nicht allein, sondern gemeinsam mit dem Konzertmeister Stabrawa spielt. Der ist ja sicher kein geringerer Virtuose als die meisten Solisten, die bei den Philharmonikern zu Gast sind. Das geht hin und her, fetzt eminent! Als Stabrawa sich danach gleich wieder setzen will, packt Kopatchinskaja ihn am Ärmel und zerrt ihn zurück in den hochverdienten Applaus. Würde er sich heftiger sträuben, stünde auch er im zerrissenen Tramp-Frack da.

Und nächste Woche gibt es schon wieder Ligeti bei den Berliner Philharmonikern: Le Grand Macabre. Nein, nix zu nörgeln. Go, Hauptwerke des zwanzigsten Jahrhunderts, go!

Weitere Kritik im Tagesspiegel.


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11 Gedanken zu „11.2.2017 – Ohrend, herzend: Berliner Philharmoniker, Rattle, Kopatchinskaja spielen Ligeti, Rihm, Mahler

  1. Sagen wir mal so: Wenn Kopatchinskaja spielt, geht es eigentlich nur am Rande um Musik: Im Zentrum stehen Kopatchinskaja, Kopatchinskaja, Kopatchinskaja. Das ist genau das was der Jubilar dieser Tage, Gidon Kremer mit Recht am Konzertleben kritisiert.

    • Ja, Kopatchinskaja polarisiert natürlich. Ich verstehe, was Sie meinen, stimme Ihnen aber nicht zu. Nach meinem Empfinden stehen auch ihr extrovertiertes Auftreten und ihre Extravaganzen im Dienst der Werke – aus Graus gegen konservatorischen Museumsbetrieb. Über die Details gerade bei Klassikern kann man natürlich streiten.
      Ob Kremer mit seiner Kritik ausgerechnet Kopatchinskaja im Sinn hatte?

      • Er hatte mit Sicherheit Kopatchinskaja im Sinn, wenn er in einem kürzlich gesendeten Interview sagte: „Heute ist an der Tagesordnung Show Business, Entertainment, alles das, was mir fremd ist…“ Man müsse vielmehr als Musiker seinen Weg suchen, „anstatt in die Welt der Stars von heute zu schauen – wie kann ich wen an die Wand spielen und wie kann ich wen übertrumpfen, ob mit Gestik, ob mit brillantem Spiel, ob mit Äußerlichkeiten, nacktem Rücken oder Spiel ohne Schuh oder was sonst…“
        Dieser Versuch, durch Äußerlichkeiten zu überzeugen, geht bei Kopatchinskaja – wie übrigens auch bei Nigel Kennedy oder David Garrett – natürlich auf Kosten der Interpretation, bis hinein in die Intonation. Diese Musiker sind in Wirklichkeit diejenigen, die sich auf musealen Schätzen ausruhen, weil sie sich weniger um die Neuinterpretation der Werke, sondern ihres Selbst bemühen. Dagegen ist Kremer mit seinen siebzig Jahren von einer Frische und Überzeugungskraft, die ihresgleichen sucht. Er braucht eben keinen Firlefanz.

        • Ja, dieses Zitat bezieht sich wohl eindeutig auf Frau K, da haben Sie Recht. Mir scheint es aber – bei grenzenloser Bewunderung für Kremer – ungerecht und der Bezug auf solche Äußerlichkeiten in gewisser Weise selbst eine Äußerlichkeit. Ob es den genannten Musikern (wobei ich finde, K., Garrett und Kennedy gehören nicht in einen Topf) nun um Neuinterpretationen oder um ihr Selbst geht, ist ja letztlich eine Spekulation. Ob Firlefanz oder Intensivierung, auch eine Geschmacksfrage.
          Über die Intonation können wir reden, das ist weniger spekulativ …

          • Ich denke, der Bezug auf solche Äußerlichkeiten ist keineswegs selbst eine solche, und zwar dann nicht, wenn man erstens zu deutlich merkt, dass das, was als Spontateität erscheinen soll, nur aufgesetzt und einstudierte Show um des Effekts willen ist. Darin sind Kopatchinskaja und ihr Lieblingsdirigent Currentzis leider allzu groß. (Da gab’s mal einen sehr erhellenden Artikel in der FAZ).
            Und eine Äußerlichkeit ist es auch dann nicht, wenn die Interpretation vor lauter Drückern, unmotivierten Temposchwankungen (zumal wenn eine unsinnige Beschleunigung dann auch noch technisch misslingt) und durch Missachtung dynamischer Vorgaben des Komponisten bis zur Verkitschung romantisiert wird. Das ist keine Geschmacksfrage, sondern eine Frage künstlerischer Redlichkeit.
            Mit der Intensivierung des Ausdrucks ist es so eine Sache. Das eine Extrem ist natürlich die Ausdruckslosigkeit, das andere der Holzhammer. Da hilft viel eben nicht viel.

            • Ich glaube, wir lassen den Dissens mal einfach stehen. Der harsche Artikel von Jan Brachmann über Currentzis war in der Tat sehr gut. Aber ich habe schon sehr gelungene Konzerte mit Currentzis erlebt, z.B. Purcells Dido in der Berliner Philharmonie. Currentzis‘ Prophetenpose nervt, auf einen Scharlatan würde ich ihn aber auch nicht reduzieren.
              Ihrer technischen Kritik stimme ich z.T. zu, bleibe aber dabei, dass es mehrere Wege nach Rom gibt. Ich schätze Kopatchinskaja ebenso wie z.B. Isabelle Faust, ihr glattes Gegenteil.

      • Die Antwortfunktion beim Beitrag vom 3. März ist nicht aktiv, deswegen an dieser Stelle:
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        O ja, nach Rom führen sehr viele Wege; zu einer künstlerisch interessanten Interpretation sogar noch weitaus mehr.
        Ein Fuhrknecht freilich, der uns geradewegs in die Pontinischen Sümpfe führt, kann sich nicht auf die hübsche Redensart berufen.
        Und Kopatchinskaja scheint, wenn man ihre eigenen Äußerungen so liest, von den vielen Wegen gar nichts zu halten, sondern den Anspruch zu stellen, nach vielen öden und viel zu braven Einspielungen (da macht sie gar keinen Unterschied!) endlich einmal eine überzeugende Darbietung zu liefern – mit Jahrmarktseffekten.
        Davon lassen sich auch manche „Kritiker“ beeindrucken und schlagen die Entertainment-Qualitäten dem musikalischen Ertrag zu, während die Leistung von wirklichen Größen wie der erwähnten Isabelle Faust, Julia Fischer oder Christian Tetzlaff als bieder, langweilig und verzopft diskreditiert wird.
        Diese Indolenz könnte zu einer Geschmacksverbildung weiter Kreise führen, was durchaus auch politische Nebenwirkungen haben kann.

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