10.12.2016 – Schallend, verhallend: Berliner Philharmoniker, Thielemann, Kremer mit Gubaidulina und Bruckner. Rattle und Hannigan mit Grisey

Das interessante Programm, das die Berliner Philharmoniker unter Christian Thielemann (mehr dazu unten) dreimal gespielt haben, wird am Samstagabend durch das anschließende Late-Night-Konzert mit Simon Rattle, Barbara Hannigan und einem 15köpfigen Ensemble aus Philharmonikern und Gästen außergewöhnlich kontrapunktiert: Vier ergreifende Meditationen über den Tod sind Quatre chantes pour franchir le seuil, die der französische Komponist Gérard Grisey (1946-98) kurz vor seinem Tod komponierte. Ein leises Reiben auf der Großen Trommel ist vor und zwischen den Stücken zu hören, oder eben kaum zu hören, und da meint der (Nicht-)Hörer sein eigenes Atmen zu vernehmen, fassungslos vor der unbegreifbaren Grenze.

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Die Kanadierin Barbara Hannigan trägt die vier Stücke in allen Farben des Entsetzens vor, enorme Gestaltungskunst: hauchend, stockend, sprechend, schreiend … und singend, singend, singend, denn es ist Musik von ungeheurer Klangschönheit.

Drei hohe Instrumente umrahmen ihren Sopran. Im ersten Stück über den Tod eines Engels nach einem Gedicht von Christian Guez Ricord vernimmt man auf einmal irritiert eine zweite Frauenstimme, auf derselben Tonhöhe, identisch intoniert, als käme sie verdoppelt aus demselben gläsernen Körper – so klingen vielleicht Engel? Doch dann begreift man, dass es eine Trompete ist. (William Forman spielt, ehemaliger Solo-Trompeter der Deutschen Oper.)

Flöte und Violine gehören ebenfalls zum inneren Kreis, umringt von einem weiteren Kreis dunkler, tiefer Instrumente. Auf einem einzelnen Ton beziffert Hannigan Sarkophage, deren Inschriften zerstört sind, ehe sich ein Epitaph entziffern lässt und ihr Gesang zu blühen beginnt, gleich der erinnerten Blüte des Verstorbenen (zugleich einer verblichenen Zivilisation). Der Tod der echolosen Stimmen im Hades (nach der griechischen Dichterin Erinna) und der Tod der Menschheit (nach dem Gilgamesch-Epos) folgen.

In jedem Moment spürt man, dass diese berührende Musik Simon Rattle und seinem Ensemble ein tiefes Anliegen ist.

Das nächste Late-Night-Konzert gibt’s im März, wie immer so früh in der späten Nacht, dass man es bequem anhören kann, bevor man ins Berghain zieht. Aber nach etwas wie Grisey wird die Nacht keine größere Entrückung mehr bereithalten.

Weitere Kritik von Schlatz („Holy shit, alles andere als peripher“)  –  Kritik eines französischen Grisey-Kenners („Trop lyrique“)  –  Zum Konzert

Zuvor: Philharmoniker mit Thielemann und Kremer

Zart, suchend, fragend ist Anton Bruckners Messe Nr. 3 f-Moll zumindest zweimal: am Anfang und am Ende. Zu Beginn, in Moll, erinnert das Vier-Ton-Motiv an ein Lamento. Am Schluss, in Dur, gespielt von Albrecht Meyer auf der Oboe, steigt es irritierend in den Raum hinab und bleibt da stehen als ein himmlisches Fragezeichen der Gnade.

Dazwischen eine Stunde lang gut katholisch: Verinnerlichung durch Überwältigung, eine stellenweise geradezu gewalttätige Verherrlichung Gottes. Christian Thielemann forciert energisch die Eruptionen der präzise gestaffelten Orchestergruppen der Berliner Philharmoniker, aufwühlende Musik ohne jede Spur vorweihnachtlicher Behaglichkeit. Dass sie eher kosmischen Schrecken und kosmisches Entzücken weckt als genuin religiöse Andacht, ist halt so eine Bruckner-Sache. Wer schreit, hat Unrecht, könnte man entgegenhalten, vor allem wenn er Credo! schreit.

Der fabelhafte Rundfunkchor Berlin (einstudiert von Gijs Leenaars) schreit allerdings nie, auch wenn er ohrenbetäubend zu dröhnen hat. Wie er, am anderen Ende der Skala, aus dem Nichts ins Kyrie eleison gelangt, ist schon phänomenal. Von wegen unsingbar, wie Bruckner zur Zeit der Komposition attestiert wurde – 1867, da er nur noch eine kleine Spanne Zeit zu haben meinte und sich verloren wähnte. (Tatsächlich sollte Bruckner dann ja noch einige nicht uninteressante Symphonien komponieren, die heutzutage unter Kennern als Geheimtipp gelten.)

Die vier Solisten haben angesichts der Wucht und des Facettenreichtums des Chores nicht viel zu gewinnen, steuern oft bloß Stichworte und Spitzentöne bei; dass die mitunter etwas schrill oder gepresst klingen, liegt wohl auch an dieser undankbaren Rolle. Vielleicht wären die Solisten auch vor dem Chor statt vor dem Orchester besser postiert gewesen. Michael Schade singt am intensivsten (im incarnatus klingt er wie ein Heldentenor), der Bass Franz Josef Selig am anrührendsten; außerdem Wiebke Lehmkuhl mit schön klingendem Alt und die Sopranistin Anne Schwanewilms, die nicht ihren besten Tag erwischt zu haben schien.

Was echt Seltenheitswert hat: Geradezu oberflächlich wirkt dieser Bruckner zwischen dem folgenden Grisey und der vorausgegangenen Gubaidulina.

sophia_the_martyrImmer himmelwärts zieht es, am Anfang des Konzerts, die Sologeige in Sofia Gudaidulinas Violinkonzert In tempus praesens (2006). Immer hervorgehoben, wird sie bald getragen vom tiefen Orchester (in dem die Geigen fehlen), bald vom Blech in die Höhe gestoßen, bald flirrend und klingelnd umhüllt von Triangel, Harfen, Celesta, Glockenspiel, Cembalo.

Paradox, aber auch spannend, dass eine Musik, die so explizit auf das Jetzt, den Moment, die Gegenwart zielt (Gubaidulina: die essenzielle Zeit), einen derart dramatischen Gestus hat, sogar einen gloriosen Tutti-Höhepunkt, der Bruckner nicht nachsteht. Dass diese spirituelle Musik nichts Anästhesierendes hat, dafür steht auch Gidon Kremer, der nie schön um des Schönen willen spielt: Jeden Ton scheint er hier unter Anstrengung, ja Schmerz zu erkämpfen. Da fällt am Ende sogar Christian Thielemann vor Begeisterung der Dirigentenstab aus der Hand.

Gidon Kremer hört sich später, wie auch Selig und Schade, Rattles Late Night-Konzert an. Thielemann nicht, ob er mit Grisey was anzufangen wüsste?

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6 Gedanken zu „10.12.2016 – Schallend, verhallend: Berliner Philharmoniker, Thielemann, Kremer mit Gubaidulina und Bruckner. Rattle und Hannigan mit Grisey

  1. Thielemann muss man nehmen, wie er ist. Wenn Thielemann nach dem Konzert lieber Sportschau gucken will als Hannigan zuhören, so soll er das machen. Meinetwegen kann er sich auch die Bergretter reinziehen. Arbeit ist Arbeit und Feierabend ist Feierabend.

  2. Lieber Herr Selge,
    Sie sind ja fast ein so boshafter Mensch wie ich. Wenn ich an Ihren letzten Satz denke. Ein „Star“ wie Thielemann ist doch nur an sich intereressiert und nicht an anderen. Hatte Sie das etwa ernsthaft erwartet. Mama hat bestimmt schon mit einem Kaltgetränk auf ihren heissgeliebten Filius gewartet. Eigentlich schade, dass er bei gewissen Konzerten ein so großartiger Dirigent ist

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