Dharma-Abend im Kammermusiksaal? Von der west-östlichen Diva John Cage bis zum Schweizer Zen-Funk-Ritual-Groover Nik Bärtsch spannt sich das Programm, das der RIAS Kammerchor vor einigen Tagen in Amsterdam präsentiert hat und nun in Berlin singt. Dabei treffen vier Werke der US-amerikanischen Moderne auf die äußerst ambitionierte Uraufführung des Grenzgängers Bärtsch. Obwohl im Programmheft als Brückenschlag von den Großvätern in Amerika zu ihren Enkeln diesseits des Atlantiks angekündigt, scheinen die Verwandtschaftsverhältnisse doch etwas komplizierter.
Die New York School of Music hat zweifellos etwas von einer Familie, verlotterter als die Zweite Wiener Schule mit ihrem gestrengen Patriarchen Arnold Sch., aber nicht ganz so verlottert wie die Hippiefamilie des Westküstenminimalismus, dessen tonale Wonnen Alex Ross in seinem Buch The Rest Is Noise ausgiebig bis enervierend preist. Wenn man die drei New Yorker Cage, Wolff und Feldman hintereinander hört, fallen die kompositorischen Eigenheiten deutlich ins Ohr.
John Cages spätes Werk Four2 (1990) ist abstrakt, spirituell und witzig zugleich: Aus den höheren Reihen des Kammermusiksaals ertönen im Wechsel langgezogene Töne, die kleine Sängergruppen in freier Entscheidung beginnen und enden lassen. Ein Teil des Publikums wendet wie beim Tennis die Köpfe hin und her, um die jeweils neue Klangquelle zu orten; schnell wird klar, man sollte, um die Raumwirkung sich entfalten zu lassen, die Augen schließen. Und siehe, bzw höre, als der Konzertgänger die Augen schließt, wird der Traum wahr, den Cage viel früher in jugendlichem Überschwang träumte, dass nämlich jeder zufällige Laut Musik sei – zumindest teilweise: Husten und Niesen des Publikums wird nie integrierbar sein, aber das ferne Wispern einiger Besucher aus Block E passt wunderbar zu den auratischen Schwingungen der Stimmen. Und auch wenn der Sound nach abstrahierten buddhistischen Mönchsgesängen klingt, setzt sich der Text aus den Buchstaben des Namens Oregon zusammen.
In Christian Wolffs Liedern Evening Shade und Wake Up (2004) entfaltet sich ein viel beweglicherer Klang, zumal als die Sänger sich umgruppieren, kreisförmig in alle Richtungen singen und schließlich einer nach dem anderen die Bühne verlassen – die Männer auf leisen Sohlen, die Frauen auf klackenden Absätzen. Etwas enttäuschend wirken dagegen die fast ein halbes Jahrhundert früher entstandenen Duos for Pianists (1957/58), die die Lieder einrahmen. Die allerdings äußerst hörens- und auch sehenswerten Pianistinnen Ufuk und Bahar Dördüncü (beide in einer Art türkischem 80er-Jahre-Kunstleder-Blouson) spielen die etwas läppischen Elemente mit großer Geste. Trotz vielfältiger Spielweisen am und im Klavier ergibt sich nur etwas sehr Kleinteiliges, der Höhepunkt ist das gemeinsame Stoppuhr-Ausschalten der Schwestern.
Obwohl von Morton Feldman, dauert Christian Wolff in Cambridge (1963) nicht drei Stunden, sondern nur drei Minuten. Diese musikalische Reflexion über den unbewegt am Schreibtisch sitzenden Wolff ist eine asketische Erfahrung, die Sänger singen nur den Laut u, nach kurzer Zeit dürstet die Seele des Konzertgängers nach einem a oder i, zugleich fühlt sie sich tief geborgen im u, das in immer neuen Tonhöhenkombinationen erklingt. Auch das ist abstrakt, spirituell und witzig, aber ohne Cages Mönchskitsch, dafür mit jenem speziellen Feldman-Sound, der in der Beschreibung unmöglich wirkt, aber im Hören umwerfend stringent klingt (wie sich auch bei Feldmans Footfalls in der Staatsoper zeigte).
Elliot Carter hatte nichts mit Cage & Co zu tun, sondern war auch aus alteuropäisch-avantgardistischer Sicht ein richtiger Komponist. Im kuriosen Stück The Defense of Corinth (1941) begleitet ein strawinskyesker Klaviersatz (bei dem das Gebaren der Dördüncü-Schwestern nun ein großer Gewinn ist) einen Männerchor, der einen Text aus Rabelais‘ Gargantua (in englischer Übersetzung!) singt. Andrew Redmond gibt den Sprecher in dieser komplexen, gleichwohl sehr heiteren Kriegsmusik, die umso irritierender wirkt, da man bei dieser Besetzung zwangsläufig an Schönbergs sechs Jahre später entstandenen Überlebenden aus Warschau denkt.
Es ist eine gute Entscheidung, vor der Uraufführung auch Carter zu spielen. Die Musik des Schweizers Nik Bärtsch ist nämlich trotz hübscher patterns kaum als Minimalismus-Nachfahre zu etikettieren, sondern speist sich offenhörlich aus zahllosen Quellen, wie man auf seinem Youtube-Kanal nachhören kann:
Bärtschs Auftragswerk mit dem umständlichen Titel AIM – Ich gehe. Musik zu drei Texten über den Aufbruch in den Tod uns ins Leben ist thematisch vielleicht etwas überladen, aber was soll’s, der Konzertgänger wird als Hörer lieber erschlagen als unterfordert. Der RIAS Kammerchor unter Florian Helgath lässt sich jedenfalls nicht erschlagen, sondern durchschreitet die sehr verschiedenen musikalischen Idiome beeindruckend souverän.
Der erste der drei ineinander geschnittenen Texte ist Heiner Müllers Traumtext, in dem ein Vater seine kleine Tochter in einem Bambuskorb am Rand eines riesigen Wasserbeckens trägt, gefangen in einem schröcklichen Kessel. Die Vision wird von verschiedenen Männerstimmen des RIAS Kammerchores gesprochen und geechot, die Dördüncü-Schwestern zeigen jetzt ihre hohe Kunst an einem konventionell gestimmten und einem präparierten, oft perkussiv eingesetzten Flügel.
Zarteste Sangessphären dagegen im reizvoll schwelgerischen Märchen Die schöne Mondblüte, das Bärtschs achtjährige Tochter Aina geschrieben hat (und das sich nicht kindischer liest als so mancher spätromantische oder expressionistische Text, den etwa Schönberg, Berg und Webern vertont haben). Mondblütes Schwester Windhauch zeigt sich in schwirrenden Diskantklängen, die an Strawinskys Nachtigall erinnern.
Als Müllers Träumender in einem Liegestuhl einen Mann sterben sieht, biegt die Musik in eine mitreißend synkopische Funk-Nummer ab, die den dritten Text birgt, die King Fool Episode aus Shakespeares King Lear. Zuerst klar voneinander getrennt, verschmelzen die musikalischen Sphären zunehmend, so wie die Texte alle auf eine Art Abgang führen – in den Tod oder ins Leben oder beides zugleich. Inhaltlich hat die Verzahnung der Texte trotzdem etwas Gewaltsames, aber musikalisch ergibt sich am Ende ein intensives Ganzes von starker Sogwirkung. Alle Sänger gemeinsam sprechen den Satz: Wir gehen, unsere Kinder in aus Bambus geflochtenen Körben auf unseren Rücken. Statt Schlussakkord ein kollektives Fußstampfen.
Hallo Albrecht, mit Interesse und Vergnügen lese ich dein Blog! Beste Grüße Jerry
Danke Jerry, und ich denke gern an unsere grandiose Neunte und die Hyatt-Bar zurück!
Dann bin ich gespannt. Die kurzlebige Aida-Inszenierung hatte erhebliche Schwächen, aber zumindest eine sehr eindrucksvolle, mir nachhaltig erinnerliche Szene. Was man nicht von jeder Inszenierung sagen kann. Ich erinnere mich ansonsten an viel Übleres aus der Ära Harms…
ich werde berichten, bin am 28.und wahrscheinlich am 9.nochmal, da ich auch noch zur 3 . Mahler will. Die hab ich nicht mal gesehen, war da in Urlaub und als ich gehen wollte, war sie abgesagt
Hallo Herr Selge, nen Tip, komme gerade aus der öffentlichen Probe in der DO, Aida, wird sensationell
Da gehen wir am 6. Dezember hin. Der alten Aida war ja kein langes Leben vergönnt…