Vertikal lustvoll

Staatskapelle mit James Gaffigan spielt Janáček, Eötvös, Ravel im Boulezsaal

Porträt des großen Altzausels als Jungzausel: Leóš Janáček 1874

Alles sehr kiezig heute: James Gaffigan, Dirigent dieses feinen Sonntagvormittagskonzerts im Pierre-Boulez-Saal, wird nächstes Jahr Chef an der 700 Meter entfernten Komischen Oper. Vom Komponisten Peter Eötvös, dessen Werk in der Programmmitte steht, lief an der gleich nebenan gelegenen Staatsoper Unter den Linden kürzlich das neue Werk Sleepless (gemischte Eindrücke bei mir). Und von Leoš Janáček, mit dem es losgeht, gibt’s ebendort demnächst Die Sache Makropulos. (Falls nicht alle Beteiligten dann mit Omikron in der Zwangsheia fläzen werden, von Emilia Marty über Ellian McGregor bis Eugenia Montez).

Die EM-Premiere geht mit einem größeren Janáček-Rahmenprogramm einher. Dass die Staatskapelle sich mit der Idylle für Streichorchester für den speziellen Janáček-Sound schon mal warmspielen könnte, wär allerdings eine gewagte Behauptung. Fast ein halbes Jahrhundert vor der Oper entstand das Orchesterstück. Da war Janáček 24 Jahre alt, Dvořák war bei der Uraufführung 1878 in Brno/Brünn anwesend. Und ist es auch musikalisch, weit mehr, als der spätgeniale Janáček hier vorauszuahnen wäre.

Hörenswert ist die Idylle dennoch. Einige der sieben Streichersätze sind von vollendeter jugendlicher Melancholie. Im dritten Satz mündet lamentohaftes Seufzen in leicht altkluge Verklärung. Am eindrücklichsten ist gewiss der fünfte Satz, ein Adagio mit ultrakurzem, dafür umso ungestümerer Presto-Aufwallung in der Mitte. In den längeren Außenteilen spürt man denn eben doch was wie Anflüge von mährischer Wolgaweite, von bodenloser Kabanova- und Totenhaus-Traurigkeit.

Vor allem aber kommt der eminente Streicherklang der Staatskapelle hier im Boulezsaal viel besser zur Geltung als in der trockenen Lindenhausakustik. Sehr einnehmend ist auch das dynamische, spritzige und detailgenaue Dirigat von Gaffigan. Mein Platz im Rang direkt über dem Dirigentenpult taugt zudem visuell – wollte man, könnte man aus der Vertikalen die Partitur mitlesen, ebenso darf man sich aber damit begnügen, das Sterntattoo an Gaffigans rechtem Handgelenk zu betrachten.

Schön, dass die Staatsoper auch post-Sleepless mit Peter Eötvös musikalisch in Kontakt bleibt. Die Musik dieses Großmeisterziselators der Orchesterfarben (manchmal Synthese von Bartók und Boulez) ist ideale Akustikprüfung des Saals, der Befund ist bei solchen Sachen brillant. Respond für Viola und Orchester stellt – neben zwei Schlagwerkern, Celesta und Harfe – vierzehn Bläser und vierzehn Streicher einander gegenüber. Was ja eh passt, da die Bratsche aus Ohrsicht doch irgendwie halb Streich-, halb Blasinstrument ist. Falsettwogend beginnt Yulia Deyneka, ihres Zeichens Staatskapell-Solobratschistin. Ihr Part ist, bei aller Konfliktgestaltung, ideal ins Multicolorgespinst des Orchesters verwoben, besonders schön die An- und Abbändelung mit dem Fagott. Obwohl von Eötvös selbst instruktive Hinweise zur konfliktreichen Dramaturgie seines Bratschenkonzerts nachzulesen sind, geht es mir wie öfter mit diesem Komponisten, dessen Handwerk über jeden Zweifel maximal erhaben ist: in der Vertikalen Spektakel und Höchstgenuss, in der Horizontalen ein leichtes Gehtso, will sagen geht stets voran, aber mir nicht immer zwingend scheinend. Doch weil’s in der Vertikalen an jeder Stelle so prima klingt, verweilt man gern im immer neuen Augenblick.

Gaffigans straffe dirigentische Vorwärts-Energie tut auch dem permanenten Untertrieb in Maurice Ravels Ma mère l’oye genüge, dem Märchenwerk, bei dem an Blech lediglich zwei Hörner dabei sind, aber jede Menge obertonreich klöppelndes Klangsilber und Holzsinger. Das ist wie Eötvös pures akustisches Vergnügen in diesem Saal, zudem zweifellos vertikal und horizontal befriedigend. Und Dirigent Gaffigan scheint das ganze Konzert durch besonders lustvoll zu hausen, denn seien wir ehrlich, solche Lüste werden im trockenen Saal der Komischen Oper, wo Oboen manchmal wie alte Handys klingen, kaum möglich sein.

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Ein Gedanke zu „Vertikal lustvoll

  1. Oh, das hört sich gut an. Das Eötvös-Stück hätte ich gern gehört – war an dem Tag durch Familie gebunden. Ja, der Boulezsaal hat tolle Konzerte. Vielleicht geht in drei Wochen infolge Omikron-Erkrankungen tatsächlich gar nichts mehr.

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