Kurz und kryptisch* (7): RSB, Jurowski, Hope spielen Firssowa, Berg, Tschaikowsky

Heute ist Totensonntag, sagt Daniel Hope seine Zugabe an. Das Andante aus Erwin Schulhoffs Violinsonate von 1927 ist aber nicht nur hörenswert, weil der Komponist 1942 den Nazis zum Opfer fiel. Sondern auch, weil es einfach packende Violinmusik ist. Und natürlich auch aufgrund von Schulhoffs Nähe zu Alban Berg, dessen weltabschiedliches Violinkonzert Hope zuvor gespielt hat. Da klangen seine ersten „leeren“ Töne fast, als würde er gleich Fritz Kreisler spielen; aber dann wirft er sich mit Haut und Haar in diese Musik, ohne irgendwas zu glätten oder oberflächlich zu schwülsten.

Die hochdifferenzierte Spielkultur des Rundfunk-Sinfonieorchesters, das auch in widrigen bis widerlichen Zeiten mit seinem Chefdirigenten Vladimir Jurowski immer noch besser, noch berührender, noch mutiger zu werden scheint, zeigte sich zuvor schon in einem Orchesterstück von Jelena Firssowa. Aus dem REM-Phasen-Klang des Tamtam hervorgehend, entfalten sich Traumklänge, in denen jeder einzelne Ton oder Schlag sich magisch auflädt und die in einem gedrängten Alb kulminieren, der aber auch wieder vergeht; die Musik verschwindet, woher sie kam. Draußen läuten schon die Morgenglocken. Zwischendurch klackerten auch die Eicheln aufs Hausdach in dieser Nacht in Appen, wie Firssowa ihr Werk nach dem Wohnort von Sofia Gubaidulina benannt hat, wo sie zu Gast war und offenbar unruhig geschlafen hat. Aber halt fruchtbringend schlecht (kreative Menschen kennen das). Firssowa ist heuer composer in residence des RSB, das Stück mit seinem Reichtum an Klangmöglichkeiten weckt Lust und Interesse, mehr von ihr, die Komponisten mit „Priestern und Gärtnern“ vergleicht, zu hören.

Die Kombination Berg + Tschaikowsky indes wirkt nicht nur unter Totensonntagsaspekt erstaunlich unmittelbar schlüssig. So wie Jurowski und das RSB die 6. Sinfonie hier aufführen, ist die Pathétique das Krasseste, dem man sich als Hörer aussetzen kann – als hörte man sie zum ersten Mal, von den spröden Bratschen des Beginns bis zu den finalen Seufzerkaskaden, ohne Auftrumpfen in den Mittelsätzen oder gar kommod ostentatives Verzweiflungs-Poltern (recht schlimm waren da vor zwei Jahren die militärkapellhaften Moskauer Philharmoniker). Unerträglich gerade aufgrund der ideal ausbalancierten, bis ins letzte Detail peniblen Durcharbeitung statt zügelloser Passion. Ich glaube, eine bessere Pathétique habe ich noch nie gehört und werde ich kaum je hören. Sterben ist schrecklich. Kurzum, phantastisch. Also, das Konzert.

Weitere Kritiken: Herr Göbel fand es grandios. Herr Schlatz fand es alles andere als grandios. Beide sind hochkompetente, partiturkundige Hörer. Angesichts des Patts muss meine Frau entscheiden, die mit mir im Konzert war. Sie sagt: Es war grandios.

Oder Sie hören selbst nach: am 28.11., und zwar „mit Sternenhimmelprojektionen“ im Zeissplanetarium


* „Kurz und kritisch“ hieß einst eine Rubrik im Tagesspiegel, die es leider nicht mehr gibt. Da aber k&k immer fein ist, rezensiert der Konzertgänger, wenn er wenig Zeit hat, manchmal auch „Kurz und kryptisch“. 

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2 Gedanken zu „Kurz und kryptisch* (7): RSB, Jurowski, Hope spielen Firssowa, Berg, Tschaikowsky

  1. Mir war ganz ehrlich das Programm für einen nebligen Pandemie-November zu düster. Zwei Mal Tod hintereinander… Ich dachte zuerst, Appen wär so was wie der Nobelwintersportort Aspen (und nicht ein kleiner Ort nahe Hamburg an der Elbe).

    • Fand das passend, war neben Totensonntag auch mein Geburtstag und Kleists Selbstmordtag, find Pathétique und Bergs Violinkonzert da genau richtig. Über Appen hab ich auch zuerst gerätselt. Find es einen sympathisch konkreten Titel.

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