Herabsphärend

Benedikt Kristjánsson und Margret Köll im Pierre-Boulez-Saal

Gegen die Barockharfe, die in diesem Konzert gleich in mehreren Formen zu erleben ist, wirkt das moderne Konzertgoldflügelgetüm wie ein monströser SUV im Vergleich zu einem wendig-schnittigen Fahrrad. Über mehr als 4000 Jahre leitet Michael Horst in seiner Einleitung die Bedeutung des Instruments und der dazugehörigen Stimme her, bis zu den Pyramiden und natürlich zum Orpheus-Mythos. Vor einigen Wochen hat die Komische Oper einen lohnenden neuen Orfeo vorgestellt: den geradezu simplen von Gluck. Die Lieder von Emilio de‘ Cavalieri und Giulio Caccini, mit denen der Tenor Benedikt Kristjánsson und die Barockharfenistin Margret Köll ihr Programm im Boulezsaal beginnen, erinnern allerdings eher an eine andere, frühere Orphik, nämlich die von Maestro Monteverdi.

Dalle più alte sfere: alles Gute kommt von oben, so singt Kristjánsson Cavalieris Stück eingangs passenderweise vom geschwungenen Rang ins Oval herab, wo das Publikum sitzt. Florentiner Camerata, monodischer Dunstkreis um 1600, auf dem auch Monteverdi schuf. Erstaunlich gut schließt sich ein frommes isländisches Volkslied an, das der Sänger a capella und attacca folgen lässt – lustig gestört nur durch das trockne Klackern der hohen Absätze der Harfenistin, die indes herabsteigt, um dann ebenso pausenlos ein instrumentales Stück von Paolo Quagliati zu spielen. Dabei folgt ihr der Sänger herab, auf ganz leisen Sohlen.

Als Paar im Publikum fühlen meine Frau und ich uns dem konzertierenden Duo biographisch verbunden: männlicherseits protestantische Pfarrhausherkunft (in Kristjánssons Fall sogar Bischofssohn), weiblichersaits a Tirolerin. Falls wir uns bei Kölls kurzer Erläuterungsrede später nicht verhören. Zuerst denkt man da: o weh, der schöne Musikfluss im Halbdunkel dahin durch stockend vom Zettel verlesene Erläuterungen. Aber zum Glück stäubt sich dadurch keine zu große Gelahrtheit über den Auftritt. Man hört mit Interesse, wie Köll im Archivgestöber erstaunlich Konkretes über historische Verzierungen bei Caccini herausfand. Bei Kristjánsson klingen sie geschmeidig und völlig selbstverständlich. Überhaupt sind Stimmführung, Diktion, musikalische Dehnungen und auch Risikofreude dieses Sängers erstcremiger Barockchampagner. In Caccinis Amarilli, mia bella führt die Stimme den angesungenen Namen immer weiter aufwärts, bis an die Grenze der Levitation.

Einnehmend, dass Kristjánsson das Melodiegenie John Dowland (1563-1626) den Lennon seines Jahrhunderts nennt. Wobei das berühmte In Darkness Let Me Dwell eher sympathy with the depri ist. Wenn der Sänger in Flow My Tears sein hark verhaucht oder ein poröses happy kristallisieren lässt, kann man sich vorstellen, wie die elisabethanischen Damen und Herren einst dahinschmolzen. Köll begleitet hier an der einfacheren Welsh Triple Harp, während sie im letzten Programmdrittel wieder in die Saiten der Kopie einer Barberini-Harfe greift, die schon bei den Italienern zu hören war. Nun gilt’s Bach, Johann Sebastian: Und seien wir ehrlich, wie hier die erotischen und melancholischen Energien der Italiener und des Engländers sich (über die Heimlichklauber-Casanoverie des Willst du dein Herz mir schenken BWV 518) ganz aufs lustvolle Sterben verschiebt, ist schon ein protestantischer Choc. Kristjánsson aber ist ein erstrangiger Bachsänger. (Unvergesslich sein Evangelist vor einigen Jahren.) Betörend ist hier das Schlummert ein, ihr matten Augen mit warm vibrierendem Bass-U. Sympathisches Augenzwinkern, dass zum Abschluss des regulären Programms Kölls Solo mit der Goldberg-Aria sich unausgesprochen auf die apokryphe Einschläfer-Anekdote dieser Variationen bezieht. Und wirklich berührend ist es, wenn sie Kristjánsson zu dessen Zugabe begleitet: Da singt er Bachs Durch dein Gefängnis, Gottes Sohn aus der Johannes-Passion, und zwar mit dem isländischen Text, den sein Großvater einst zur Geburt eines Sohns verfasste – und den noch die 46köpfige Enkelgeneration von Kristjánssons Familie sang, und hoffentlich noch lange singen wird.

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