Goethetortig: RSB und Jurowski fausten

Franz Liszt serviert dem Konzertgänger Goethes Faust (Symbolbild)

Here we go again. Wien, Leipzig, Dresden sind schon dicht, München fast; aber in Berlin mit (noch) nicht ganz so schlimmer Lage wird erstmal weiter gespielt. Man fragt sich, wie lange wohl und darf ich das noch? Und geht doch halbwegs guten Gewissens, risikoreduziert durch Impfung und Test und FFP2-Maske, und überhaupt lieber auf Weihnachtsmärkte und Restaurants und Familienfeiern verzichtend als auf Konzerte und Theater. Ist so. Selbst wenn’s die komische Torte Faust-Sinfonie des Liszt Ferenc ist. Ist nämlich mit Rundfunk-Sinfonieorchester und Vladimir Jurowski. Mit denen droht (fast) alles interessant zu werden.

Sogar meine Tochter ist, nachdem sie mit der Schule zufällig zum Probenbesuch beim RSB war, angesteckt; nun gut, das ist eine Unmetapher derzeit, jedenfalls geht sie freiwillig mit in die Philharmonie. Dort wartet ein reines Faust-Programm. Man fragt sich skeptisch, was Herr Goethe (bzw dessen musikalischer Gewährsmann Zelter) von all diesen Musiken gehalten hätte. Genauer gesagt: von Liszt, dessen Musik circa 93 Prozent des Abends ausfüllen. Die Ästhetik- und Temperamentsunterschiede zwischen den beiden waren ja immens, was sich schon daran zeigt, dass Goethe gern Buchweizengrütze und Gries zum Frühstück mampfte, Liszt hingegen Edelkonserven-Fan war, gefüllt mit falscher Schildkrötensuppe oder Poulardenfilet mit Goldrüben, wie treue Leser des Blogs der Klassik-Stiftung Weimar wissen.

Obwohl Jurowski ein Faible für lange Programme hat, wird zum Einstieg auf die Fäuste von Schumann und Berlioz großzügig verzichtet, mit denen sich das Konzert bis drei Uhr nachts verlängern würde. Richard Wagners Faust-Ouvertüre, entstanden zwischen Rienzi und Holländer, dauert hingegen nur gut zehn Minuten, fängt hübsch mit Tuba an, und in den kreisenden Grübelfiguren der Streicher klingt mir unpassenderweise noch die phänomenale Tschaikowsky-Pathétique nach, die dasselbe Orchester, derselbe Dirigent vor fünf Tagen am selben Ort spielten.

Faust (links oben) und Komponist (rechts), wie Hanslick es sah

Das echot dann sogar bis in Liszts Faust-Sinfonie nach, die sich ausdrücklich auf Wagners Rumpf-Sinfonie bezieht (Liszt hatte sie aufgeführt und schrieb seine Faustsinfonie, weil Wagner letztlich darauf verzichtet hatte). Vor der großen Goethe-Torte gibts aber noch ein Schnittchen Lenau, ein gehaltvolles jedoch. Liszts Zwei Episoden nach Lenaus „Faust“ entstanden erst nach der großen Sinfonie und scheinen musikalisch eigentlich raffinierter, gleichwohl spritzig cartoonhaft, mit zuckenden Blitzen und Harfenrauschen und Choral, ein Riesenvergnügen.

Das mir diesmal auch Eine Faust-Sinfonie von Liszt macht, die ich erst zum zweiten Mal in meinem Leben höre. Beim ersten Mal fand ich sie furchtbar. Diesmal kommt es mir töricht vor, dass ich mir den Genuss der bösen Torte verbot, weil sie mitunter billig komponiert sein könnte. Vielleicht fehlte mir einfach die Geduld für diese (wie ich empfand) plakative und zugleich irgendwie nie vom Fleck kommende Musik, dauernd sich wiederholend mit nur vorgetäuschten Entwicklungen. Dabei ist der Klangreiztum ja enorm. Vor allem in einer so brillanten Aufführung wie vom RSB mit Jurowski, die das Goldsahnetortige zwar meidet, aber Intensität des Ausdrucks, hohe Exaktheit und pure Mischklangschönheit verbindet.

Dass Jurowski Franz Liszt ähnelt (wie meine Tochter feststellt), erhöht die Freude.

Wenn dann im Gretchen-Andante die Wellen der Solo-Bratsche die Oboenmelodie tragen, wünscht man sich im Gegenteil von Ungeduld, das möge jetzt bitte, bitte ewig so auf der Stelle treten. Der Wunsch geht dann ja gar sondersam durchaus in Erfüllung, wenn auch quer durchs Orchester. Und das Sirren und Pfeifen rund ums verzerrte Faust-Motiv im Mephisto-Satz ist so wild, dass man die sinfonische Tortenschlacht einfach genießt.

Aus der größten Torte springt dann bekanntlich (in entschlossener Abkürzung zum Faust II-Finale) die erlösende Herrenchor-Apotheose – die herrlichen Herren des herrlichen Rundfunkchors. Freilich, bei aller Klasse des Auftritts hier, was hatte das neunzehnte Jahrhundert nur mit diesen elenden Männerchören! Hier stößt man an die Grenze des Geschmacks, die bei Liszt so häufig überschritten wird, schreibt der Musikologe Dietmar Holland, der den nachkomponierten Schlusschor „peinlich“ findet. Natürlich ist das Finale für heutige Hörer durchaus der unbeabsichtigte humoristische Höhepunkt des Werks, zumal wenn der Solo-Tenor inbrünstig vom Ewig-Weiblichen singt, das ihn hinanzieht. Der Witz mit Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis ist zu naheliegend, um ihn zu reißen. Die unbeabsichtigt antiklimaktische Wirkung erhöht sich durch den nicht ganz glücklichen Auftritt von Stuart Skelton, dessen so lyrischer wie tristanfähiger Tenor seine besten Tage nicht mehr unbedingt vor sich hat.

Aber wer würde diesem enthemmten Specktackel-Finale ernsthaft die chor- und orgellose Erstfassung vorziehen?

Als Gegenstück zu einem überschäumend begeisterten Faustsinfonie-Brief des jungen Richard Strauss ist im Programmheft die hübsche Grolltirade von Eduard Hanslick verzeichnet, der man sich als Hörer vollumfänglich anschließen möchte – nur halt als schamloses Lob gemeint: Wenn irgend etwas uns Goethes Dichtung zu verleiden möchte, so wäre es die unersättliche Passion der Komponisten, diesen hohen Mast zu erklettern, um ihre eigene Fahne darauf zu pflanzen. Am unangenehmsten berührt uns die prahlerisch souveräne Miene, mit welcher Liszt dieses Kunststück produziert. Yeah!

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