GEHEIMNISFISHY

Uraufführung: SLEEPLESS von Peter Eötvös an der Staatsoper Unter den Linden

Advent, Advent, die Deutschlandbude brennt, aber die (noch) nicht geschlossenen Berliner Opernbuden zünden tapfer Premierenlichtlein an. Zur Pandemiebekämpfung wäre wahrscheinlich allgemeiner Winterschlaf bis April das Beste. Die neue Oper von Peter Eötvös, bei deren Uraufführung ein Fisch eine zentrale Rolle spielt, heißt allerdings ganz im Gegenteil SLEEPLESS.

Das Publikum für Gegenwartsmusik an der Staatsoper Unter den Linden ist nicht verbissen, Tschaikowsky sei wahnsinnig schön, sagt sogar eine Frau im Foyer zu ihren Begleitern, und eine alte Dame debattiert mit einer Studentin an der Garderobe über Vor- und Nachteile sehr kleiner Handtaschen. Muss man mögen, sagt die Studentin, Betonung auf mögen. Für den Komponisten Eötvös hingegen gilt: Muss man mögen. Es ist leicht altväterliche „Neue Musik“ eines Künstlers, der im Interview noch von amerikanischer Disco-Kultur spricht, dennoch ohne Ressentiment ist. Dafür reich an Klang- und Theatersinn, ohne dass man sich für seine Musik auf einem Festival für zeitgenössische Musik schämen müsste.

Wie vertont man Fosse?

Und zwar sinnlich selbst dann, wenn es sich einem zunächst flotten, späterhin zunehmend dubios erscheinenden Sujet zuwendet wie in Sleepless, nach einer „Ballade“ des norwegischen Autors Jon Fosse. Der ist stupend en vogue, auch Georg Friedrich Haas‘ Oper Morgen und Abend 2015 an der Deutschen Oper Berlin entstand nach einer Fosse-Vorlage. Was reizt daran (außer dass der Staatsopern-Intendant zufällig Fosse las und Eötvös fürs Auftragswerk empfahl)? In einem interessanten Essay betont Fosses deutscher Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel (einer der wichtigsten Übersetzer hierzulande überhaupt, aber das nur am Rand) die Musikalität von Fosses durch Vokabular-Verknappung stilisierter Sprache, die „unmittelbar etwas ins Klingen“ bringe. Wenn ich Fosse lese, von dem auch einige Seiten im Programmheft abgedruckt sind, klingt in mir zwar der stilistisch verwandte Kleine Nick mit seinen Hauptsatzketten los; aber der Vergleich mit Goscinny ist ja keine Schande.

und er steht auf und Alida fragt, ob sie die Kerze anmachen soll, und er sagt, das muss nicht sein, und er zieht sich an und Alida fragt, ob seine Sachen trocken sind, nein sagt er, trocken sind sie nicht, aber auch nicht mehr so nass, sagt er und er zieht sie an und Alida setzt sich im Bett auf

(Beim Kleiner Nick-Vorlesen betone ich beim Vorlesen immer mit hintenraus hochziehender Stimme die und’s, meine Kinder lieben das.)

Jedenfalls stellt sich wie bei der Haas-Vertonung auch bei Eötvös die Frage, wie sich diese karge Strenge sinnvoll musikalisch abbilden könnte. (In seiner Fosse-Verfilmung Die Nacht singt ihre Lieder von 2004 fand der Regisseur Romuald Karmakar adäquate Bildsprache und Rhythmus, deren empfundene Monotonie den Film allerdings vor einem zwischen lauter Koffeinkicks von Vorstellung zu Vorstellung hetzenden starkreizabhängigen Berlinale-Publikum zu einem Anstoß sondergleichen machte, beinah einem Skandal.)

Dass der Pragmatiker Eötvös ein Äquivalent gefunden (oder auch nur gesucht) hat, scheint mir zweifelhaft. Aus Publikumssicht ist das aber, seien wir ehrlich, ein Glück. Wer wollte solch meditatives Repetitions-Knäckebrot hören im Prachtsaal der Lindenoper? Also, da haben wir hier schon anderes gesehen, wo man sagt, um Gottes willen, urteilt denn auch ein älterer Abonnent anerkennend in der Pause. Eötvös‘ Oper Sleepless gefällt, am Ende wird es großen Jubel geben.

Sänger und Fisch, da hat man was

Man hat ja hier auch was Handfestes: vor allem ein junges, sogar minderjähriges Desperado-Pärchen, das man in einer unbestimmten Zeit, aber ganz bestimmt in Norwegen begleitet. Keine Unterkunft nirgends, und SIE ist sogar schwanger. Das ist sehr adventlich, unbiblisch wird es allerdings, wenn ER die Chefin der Herberge abmurkst, und die verwahrloste Schwiegermutter und die Hebamme gleich mit. Asle, heißt Fosses-Eötvös‘ Nicht-Josef und wird gesungen von Linard Vrielink mit ehrlichem, schnörkellosem, schmalzfreiem working-class-Tenor. Eine fiddle hat er auch dabei, die ganz am Schluss in die Einsamkeit und Ewigkeit weiterfiddeln wird. Ein Spielmann der Liebe, den die Welt gezwungen hat, zum Spielmann des Todes zu werden.

Am fiddle-Schluss ist Asle längst aufgehängt, die Moritat zuvor immer schauriger geworden, aber nicht plausibler. Dass eine diffuse Rassismus-Thematisierung bei der permanenten Ausstoßung des jungen Paars mitspielt, scheint problematisch. Nicht, weil das Thema auf der Opernbühne nichts zu suchen hätte, im Gegenteil! Nur in der ansonsten raunenden, geheimnisselnden, gleichnishaften Schwibbeligkeit des Ganzen, die ja durchaus atmosphärisch und mysteriös ist, wirkt das allzu plump.

Und so sehr man mit dem kindlichen Paar mitzufiebern bereit ist, so unzureichend wirkt die Entfaltung des erst schwangeren, dann ihr Kind stillenden Alida-Charakters. Das liegt keineswegs an Victoria Randem, die stimmlich sehr präsent ist, kraftvoll und geradlinig, ja manchmal fast musicalhaft zu singen hat (wenn auch ohne Ohrwürmer). Aber sie darf ihre Stärke kaum ausspielen, obwohl sie könnte, auch leider nicht mitmorden, stattdessen hat sie passiv zu leiden und immer wieder zu Schlaf zu gehen, wo ihr dann mehrere Vokaltrios des Staatsopern-Chors ihr Schicksal singen. Am Ende nimmt sie sich (von allen verlassen, doch in ewiger Treue) das Leben, indem sie „ins Meer geht“. Ist es moralistisch, sich daran zu stoßen, wenn der Regisseur Kornél Mundruczó den Suizid der Hauptfigur so beschreibt: sie entscheidet sich, Teil eines übergeordneten Ganzen zu werden“? Und dies hier: Praktisch gesehen ist es eine Flucht, ein Selbstmord, aber spirituell gesehen eine Art transzendente Sehnsucht nach einer größeren Wahrheit. Sie will eins sein mit dem Meer, den Wolken und dem Universum. Das ist der Glaube an Ebenbürtigkeit – schlicht haarsträubend zu finden?

Dabei macht Mundruczós Inszenierung durchaus Bühnenfreude. Vor allem gibt es einen ziemlich tollen riesigen Mehrzweck-Fisch (Bühne Monika Pormale), dessen fleischiges Inneres Sozialwohnung oder verruchte Bar und dessen Maul Juweliersvitrine sein kann, dessen Augen in verschiedenen Farben strahlen und dessen Schuppenhaut angeflackert als weites Meer des Nordens daherschillert. Eine Laterne, auf der am Anfang eine Katze sitzt; später Möwen auf dem Fisch; wie gesagt, hier hat man was. Heikler scheint etwa die klischeehafte Darstellung einer Prostituierten (Sarah Defrise, sängerisch tadellos, teils sogar akrobatisch), deren Zynismus der treuen Zweierliebe gegenübergestellt wird. Aber das sind auch wieder Probleme, die wohl auf Fosses Vorlage zurückfallen.

Orchesterglück und fishy Restgefühl

Umso lieber lauscht man beglückt ins Orchester, das ganz Eötvös-Klang ist (und auch vom Komponisten selbst dirigiert wird). Mit einem Harfenseufzer beginnt es, dann setzt ein langer anschwellender Ton des Soprans von Victoria Randem ein: unverkopftes, sensuelles Musiktheater, das man mit Genuss hört. Zwölf Abschnitte auf zwölf verschiedene Grundtöne: zur Kenntnis genommen, aber geschenkt. Denn glitzerig und silberglöckelig ist diese Musik, voller bedrohlicher Schnarrungen und Bassungen, mit hoher Harfen- und Marimba-Präsenz. Die fiddle bleibt hingegen eher Beiwerk, den Behauptungen des Textes zum Trotz. Und dass das sängerische Ensemble – nicht nur die Hauptdarsteller Randem und Vrielink, sondern auch acht weitere vorzügliche Sänger von Hanna Schwarz über Tomás Tómasson bis Arttu Kataja – rundum überzeugt, liegt ja auch daran, dass Eötvös extrem sängerorientiert schreibt. Zudem voller Respekt und Liebe für den Text.

Und mit großem dramaturgischen Gespür. Denn bei allem Zweifel am Sujet geht es flott voran, und man geht ja gerne mit. Erst in der zweiten Hälfte zieht es sich dann etwas, zuerst beim etwas hölzernen Retardieren vor Asles Hinrichtung, dann am Schluss, wo gegrübelt und sinniert wird über Verbrechen, Verluste und Tragödien, die wir ja zuvor in aller Eindeutigkeit gesehen haben. Obwohl man bei Fisch, Meer und englischer Sprache, in der gesungen wird (Norwegisch wär auch schön gewesen), selbstverständlich an Britten denkt: Hier fehlen eben letztlich produktive Leerstellen des Grauens wie in Peter Grimes, die des langen Nachsinnierens wert wären. Eher bleibt, trotz fortgesetzter Kurzweil über zweieinhalb Stunden, ein fishy Restgefühl.

Fünf weitere Aufführungen von Sleepless im Dezember (wenn der wohl unvermeidliche Lockdown nicht zuvor auch die Opernlichter ausbläst)

Weitere Kritiken: Schlatz

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4 Gedanken zu „GEHEIMNISFISHY

  1. Fand ich auch, dass Englisch als gesungener Sprache nicht optimal war. Hätte mir auch Ungarisch vorstellen können.
    „diffuse Rassismus-Thematisierung“ Das hab ich nicht so gesehen.
    Respekt, dass Sie am Samstag auch noch in der Kabanova waren.

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